22.05.2008 - 03.12.2009
"Deutsche Kunst" oder "Kunst aus Deutschland" ist ein Etikett mit Ausstellungstradition, das Fiktion ist. Denn mit der Realität künstlerischer Praxis hat nationale Festschreibung meist wenig zu tun. Dennoch stellen länderspezifische Fragen auf der Suche nach Geschichte, Genealogien oder Tendenzen eine Konstante in der Kunstgeschichte und im Kunstbetrieb dar, und die Überblicksausstellung ist ihr gängiges Format. In diesem Zusammenhang werden auch Lebens- und Arbeitsorte als Koordinaten in Künstlerbiografien entsprechend gewichtet, da sie einer ersten Bestimmung der Position im System des Kunstbetriebs dienen. Oft werden sie dabei auch mit vermeintlich nationalen oder lokalen Qualitäten verknüpft, die sich in künstlerischer Produktion widerspiegeln sollen. Mittels kulturpolitischer oder kuratorischer Rhetorik – häufig vom Kunstmarkt unterstützt – wird so versucht, via Herkunftsbefund nationale Repräsentation abzuleiten. Besonders sichtbar wurde das im prominenten englischen Fall der "Young British Art", wo eine Bewegung erfolgreich konstruiert und vermarktet wurde. Ähnliche Ansätze und Erfolge von "Kunst aus Russland" (SOZART) oder "Kunst aus China" (1990er Jahre) zeigen, dass es sich dabei um ein immer wiederkehrendes Phänomen handelt.
Von der legendären Ausstellung "Von hier aus – Zwei Monate neue deutsche Kunst" in Düsseldorf im Jahre 1984 bis zu "Made in Germany 2007" in Hannover haben zahlreiche Präsentationen die Frage nach der Herkunft und dem Produktionsstandort Deutschland behandelt, allerdings fand eine thematisch-kulturelle Auseinandersetzung bislang nur indirekt statt, denn aufgrund unserer Geschichte wird jegliche inhaltliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Land als heikel und problematisch angesehen. Jedoch gerade die Analyse und Beschäftigung mit dem scheinbar vertrauten wie auch fremden Terrain Deutschland ist in einer Situation selbstverständlicher, länderübergreifender Kommunikation und von Auflösungstendenzen bedrohter, nationalstaatlicher Entscheidungsmacht in Europa besonders interessant und wichtig. Denn einerseits beobachten wir den Anspruch, dass sich nationale Unterschiede zu nivellieren scheinen, andererseits wird lokalen Kulissen und Besonderheiten wie der eigenständigen Sprache eine neue Bedeutung zugesprochen.
Vor diesem Hintergrund versteht sich das Projekt "Vertrautes Terrain" deshalb als Resonanzraum für die differenzierte Auseinandersetzung mit Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern, die Deutschland auf sehr unterschiedliche Weise als Geschichts-, Kunst- und Sozialraum reflektieren. Die Konzentration auf die Situation in Deutschland gilt der Erkundung einer "imaginären Kartografie", die inhaltliche und formale Anliegen, Symptome und Virulenzen in der Kunst vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftpolitischen oder sozio-kulturellen Gegenwart aufspüren möchte. Eine geografische Kartierung Deutschlands nach aktuellen Kunstzonen und -zentren, wie z.B. das als Marketinglabel funktionierende Etikett "Leipziger Schule" oder der anhaltende Berlin-Sog, spielen dabei eine untergeordnete Rolle.
Fragen nach Geschichte, Erinnerung, kultureller Verortung, Identität, biographischen Bezügen, Strukturen, Symbolen, Formbezügen, Klischees und Repräsentationspolitik bilden die Basis des Projekts: Was interessiert Künstler unterschiedlicher Nationalitäten an Deutschland heute? Wo entstehen Bezüge zu Deutschland? Entsteht aus der "Identität im Zweifel" (Hans Belting) eine wie auch immer geartete thematische Brisanz in künstlerischen Arbeiten? Welche ästhetische und künstlerische Qualität haben Werke, die auf deutsche Kultur, Geschichte, Personen oder Orte Bezug nehmen? Welche Rolle spielen historisch etablierte Qualitätssiegel und aktuelle Hypes (von der Romantik bis zur "Leipziger Schule") in der internationalen Außenwahrnehmung?
"Vertrautes Terrain – Aktuelle Kunst in und über Deutschland" versteht sich dementsprechend sowohl als Prozess als auch als aktuelle Momentaufnahme mit rund 50 deutschen und internationalen Künstlerinnen und Künstlern. So wird die Ausstellung nicht zuletzt geprägt sein von gemeinsamen und sich durchaus wandelnden Vorstellungen davon, was der Begriff Deutschland bedeutet.
Um diese Fragestellungen nicht nur in der Bildenden Kunst aufzuzeigen, sondern auch mögliche Parallelentwicklungen und Referenzen auf anderen kulturellen Feldern wie Literatur, Musik, Theater, Tanz, Design, Mode oder Film zu untersuchen, bildet ein gemeinsam mit dem Künstler Heiner Blum konzipierter Resonanzraum das Herz der Ausstellung. Die räumliche Umsetzung der Metapher "Resonanzraum" ist transdisziplinärer Arbeitsplatz, temporäre Ausstellungsfläche und Veranstaltungsort zugleich. In Vorträgen, Diskussionen, Aktionen, Präsentationen, Performances, Führungen und Aufführungen mit unterschiedlichen Kooperationspartnern soll der Komplexität des Themas Rechnung getragen werden und dem Besucher inhaltliche Annäherungen von unterschiedlichen Seiten erlauben.
Einen weiterführenden Blick ermöglicht die im 2. Obergeschoss des Museums verortete Ausstellung Vertrautes Terrain – Collectors' Choice aus den Beständen der mit dem ZKM Museum für Neue Kunst kooperierenden Privatsammlungen Boros, Grässlin und der LBBW.