09.12.2010 - 10.07.2011
Das Museum im Kulturspeicher verfügt in seiner städtischen Sammlung über reichhaltige und reizvolle graphische Bestände vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Aquarelle, Zeichnungen und Druckgraphik sind lichtempfindlich und können deswegen nur temporär gezeigt werden.
Mit der Reihe "Drehscheibe" können die Besucherinnen und Besucher des Museums Einblicke in die städtische Sammlung gewinnen: In regelmäßigen Abständen werden Bestände zu verschiedenen Themen aus dem Depot ans Tageslicht geholt und im Dialog mit Werken ausgewählter Künstlerinnen und Künstler in Raum 05 präsentiert.
Aus Anlass der Uraufführung der Oper "Die andere Seite" am Mainfranken Theater Würzburg von Michael Obst (Libretto Hermann Schneider nach dem Roman Kubins) sind als "Drehscheibe III" aus dem Bestand der Graphischen Sammlung elf Lithographien von Alfred Kubin (1877-1959) sowie einige Erstausgaben von ihm illustrierter Bücher zu sehen. Außerdem ist in der Ausstellung ein Porträt Alfred Kubins aus dem Jahr 1951 vertreten, das der Würzburger Maler Josef Versl (1901-1993) gezeichnet hat. Versl hatte Kubin in den 1930er Jahren kennen gelernt und besuchte ihn 1940 zum ersten Mal in Zwickledt, 1942 ein weiteres Mal gemeinsam mit Dieter Stein, der aus seinem Besitz eine Zeichnung Kubins zur Ausstellung beigesteuert hat. Aus dem Nachlass Versls stammen zwei Zeichnungen, Lithografien, Mappenwerke, Bücher und Briefe Kubins, die die enge Freundschaft zwischen den beiden Künstlern dokumentieren.
Das graphische Werk Alfred Kubins kreist um die Themen Traum, Vision und Tod und ist von hintergründigem Humor geprägt. Hexen, Ungeheuer, Mischwesen und groteske Gestalten sind auf seinen Zeichnungen zu erkennen, die "alle das Stigma dieses zwittrigen Dämmerbereiches" tragen und an merkwürdigen Orten ihr Unwesen treiben - in einem "seelischen Zwischenreich", einer "Region der Dämmerwelt". Im Rückgriff auf Bildfindungen von Hieronymus Bosch, Brueghel, Goya oder Max Klinger entwickelte Kubin in nervöser Strichführung eigene "Traumprotokolle", wie er seine Zeichnungen nannte. Im Jahr 1900 erschien "Die Traumdeutung" Sigmund Freuds, 1919 seine Schrift "Das Unheimliche". Kubin las Schopenhauer, Nietzsche und Salomo Friedlaender. Er pflegte geistigen Austausch mit vielen Künstlern, Philosophen und Schriftstellern und war Mitglied der Neuen Künstlervereinigung München sowie des Blauen Reiter. Kubins Kunst ist aber auch im Kontext der untergehenden österreichisch-ungarischen Monarchie und der zunehmenden Brüchigkeit bürgerlicher Werte zu sehen.
Die elf Lithographien aus der Städtischen Sammlung entstanden in den Jahren zwischen 1921 und 1935. Sieben Exemplare sind Einzelblätter, fünf Exemplare ("Circe", "Hexenküche", "Behemoth", "Leviathan" und "Kriegskameraden") gehören zu der insgesamt 13 Lithographien umfassenden Bilderfolge "Rauhnacht", deren Zeichnungen im Herbst 1924 nach einem Fiebertraum entstanden waren. Kubin veröffentlichte den Zyklus 1925 in Berlin und nachträglich wurden die Blätter aus dieser Folge einzeln herausgelöst. Der österreichische Schriftsteller Richard Billinger schrieb 1931 das gleichnamige Drama "Rauhnacht", das am 10.10.1931 mit Bühnenbildern Alfred Kubins in den Münchner Kammerspielen uraufgeführt wurde.
Kubin lebte ab 1906 in einem Schlösschen in Zwickledt bei Wernstein, hatte kurz zuvor erste Illustrationsaufträge für Bücher erhalten, fertigte Zeichnungen zu eigenen Schriften an und stattete bis zu seinem Tod rund 170 Bücher mit Illustrationen aus, was ihm eine wirtschaftliche Existenzgrundlage verschaffte. Er illustrierte u.a. Werke von Edgar A. Poe, Fjodor Dostojewsky, E.T.A. Hoffmann, August Strindberg, Jean Paul, Voltaire, Honoré de Balzac, Hugo v. Hofmannsthal, Gerhard Hauptmann, Annette v. Droste-Hülshoff, Franz Werfel, Gustav Meyrink, Paul Scheerbart und das Buch Daniel aus dem Alten Testament. Das buchkünstlerische Werk Kubins umfasst zu seinen Lebzeiten einschließlich aller Neuauflagen und Vorzugsausgaben 255 Titel und insgesamt 2361 Illustrationen und Zeichnungen. In der Ausstellung sind sowohl von Kubin selbst verfasste Bücher als auch von ihm illustrierte Werke anderer Schriftsteller zu sehen.
Graphische Arbeiten von Jutta Schmitt und Helmut Booz zeigen thematische und formale Verwandtschaft zur Phantastik Kubins: Jutta Schmitt (geb. 1956) studierte Graphik-Design an der Fachhochschule Würzburg und betreibt seit 1976 gemeinsam mit Bernd Kreußer das Plastische Theater Hobbit. Als freischaffende Grafik- und Performancekünstlerin ist sie durch zahlreiche Ausstellungen und Aktionen im In- und Ausland bekannt. 1983 gründete sie die "schmittgruppe31" als persönliches Konzept, das Leben als Künstlerin und dreifache Mutter auf schöpferische Weise miteinander zu verbinden. Ihre Linolschnitte basieren größtenteils auf Zeichnungen ihrer Kinder, die sie in ihre Entwürfe integriert, neu kombiniert und verändert. Dabei entstehen rätselhafte Chiffren, die mehrere Lesarten zulassen, figürliche Assoziationen ermöglichen oder auch als abstraktes Spiel spannungsreicher Formen gesehen werden können. Die kleinen kombinatorischen Objekte aus Knochen erzählen Geschichten und oszillieren zwischen Grauen und Komik.
Helmut Booz (geb. 1933) verbindet mit Alfred Kubin eine starke Affinität zum Literarischen. Netzartige Strukturen überziehen seine Blätter und lassen fratzenhafte Gesichter oder merkwürdige Figuren erkennen, die eher der Welt des Unterbewussten oder des Traums denn der sichtbaren Realität anzugehören scheinen. 1954-58 studierte er an der Akademie der Bildenden Künste in München und absolvierte 1960 sein 2. Staatsexamen für Kunsterziehung. 1972-77 lebte er mit seiner Familie in Paris. Bis 1983 war er im Lehrerberuf tätig, arbeitete bis 1995 als Kunstdidaktiker an der Universität Würzburg und ist seither freischaffender Maler und Graphiker. Er zeigt frühere Zeichnungen sowie aktuelle Arbeiten, die angeregt durch Kubins Roman "Die andere Seite" eigens für die Ausstellung entstanden sind.