Der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora wurde im Sommer 2012 von einer Familie aus Celle ein einzigartiger Fund übergeben: eine Mappe mit 150 Häftlingszeichnungen und etwa 20 handschriftlichen Dokumenten samt einem Häftlingstagebuch aus dem Kommando „Hecht”, einem Außenlager des KZ Buchenwald bei Holzen im niedersächsischen Weserbergland.
Über 67 Jahre galten die Zeichnungen und Dokumente als verschollen – nun sind sie wieder aufgetaucht und werden in einer Sonderausstellung präsentiert. Die Zeichnungen, darunter 130 eindrucksvolle Porträts von Häftlingen, stammen vom französischen Oberst Camille Delétang (1886-1969), der das Konzentrationslager überlebte und nach dem Krieg Präsident der französischen Association Nationale des Anciens Combattants wurde. Delétang gehörte zu den ersten Häftlingen, die im September 1944 in das neu errichtete Lager Holzen bei Eschershausen deportiert wurden. Dort musste er Zwangsarbeit beim Ausbau einer Stollenanlage leisten, in der das Volkswagenwerk V1-Flugbomben montieren lassen wollte. In der knappen Freizeit zeichnete Déletang Porträts seiner Mithäftlinge und Szenen aus dem Lageralltag. Recherchen zu den 130 porträtierten Häftlingen ergaben, dass mehr als die Hälfte der Porträtierten die Deportation nicht überlebt haben. Die Zeichnungen sind ihre letzten Lebenszeichen.
Als das Lager Anfang April 1945 angesichts der anrückenden US Army geräumt wurde, übergab Delétang seine Zeichnungen dem französischen Häftlingsarzt Dr. Armand Roux (1886-1960), weil er glaubte, dass dieser den Todesmarsch in das KZ Bergen-Belsen eher überleben würde. Dr. Roux, der ebenfalls als Résistance-Kämpfer ins KZ eingewiesen worden war, steckte die Zeichnungen zusammen mit Dokumenten aus dem Krankenrevier und seinem Lager-Tagebuch in eine Mappe, die er mit sich führte, als der Transportzug am 8. April 1945 in das Massaker von Celle geriet: Nach einem Luftangriff auf den Bahnhof von Celle machten SS und Einheimische Jagd auf flüchtige Häftlinge und erschossen mindestens 170 von ihnen. Roux überlebte, doch in dem Chaos verlor er die Mappe mit den wertvollen Zeichnungen und Dokumenten. Sie galten seither als verschollen. Was Dr. Roux nicht wusste: Noch am gleichen Tag fand eine Deutsche die Mappe nur wenige Meter vom Bahndamm entfernt in ihrem Schrebergarten. Ihr heute 91-jähriger Schwiegersohn übergab die eindrucksvollen Dokumente nun der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora.
Dass die Zeichnungen und Dokumente 67 Jahre nach ihrem Verlust nun wieder aufgetaucht sind, ist an sich schon eine Sensation. Noch beeindruckender wird der Fund aber durch die dichte Überlieferungsgeschichte zur Entstehung und zum Verlust der Zeichnungen sowie zur Beziehung des Künstlers zu polnischen Häftlingen, die in Holzen mit den Franzosen zusammen Widerstandsgruppen bildeten.
Im Rahmen der Ausstellung „Wiederentdeckt. Zeugnisse aus Holzen” werden die Zeichnungen und schriftlichen Dokumente nun erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt. Ergänzende Information zur Lagergeschichte und zum Massaker von Celle sowie exemplarische Biografien ordnen die Zeichnungen und ihre Motive historisch ein. Die Perspektive der Gefangenen vermitteln neun Hörstationen mit Erinnerungsberichten polnischer und französischer ehemaliger Holzen-Häftlinge.