"Herzensschatzi komm!" Mit diesem dringenden Wunsch hat Emma Hauck, Anfang des 20. Jahrhunderts Insassin der Psychiatrischen Klinik Heidelberg, in Briefen an ihren Mann vergeblich Blatt um Blatt gefüllt. Als sie im Februar 1908 erstmals in die Einrichtung kam, war sie seit viereinhalb Jahren verheiratet und Mutter zweier kleiner Kinder. Kurz nach ihrer Entlassung wurde sie für unheilbar krank erklärt und in die Heilanstalt bei Wiesloch eingewiesen. Dort starb sie 1920 im Alter von 42 Jahren.
Aus den Briefen der Emma Hauck sprechen die Sehnsucht nach Zuwendung und das Leiden an den Geschlechterrollen der damaligen bürgerlichen Gesellschaft. Einige der zahlreichen eng beschriebenen Blätter bestehen aus unleserlichen Wortreihen, die abstrakte grafische Strukturen bilden und einer modernen Bildsprache ähneln. Neben vielen anderen solcher ästhetischen Äußerungen von psychisch Kranken haben die Blätter Eingang in die berühmte Sammlung Prinzhorn gefunden. Von dem an der Heidelberger Klinik arbeitenden Arzt und Kunsthistoriker Hans Prinzhorn zusammengetragen, wurden sie 1922 unter dem Titel "Bildnerei der Geisteskranken" veröffentlicht. Die Publikation weckte unter den Avantgarde-Künstlern jener Zeit große Aufmerksamkeit. Vor allem den Surrealisten galt sie als eine Art Bibel. Dessen Vertreter sahen in der Sammlung einen Akt der Befreiung von gesellschaftlichen Konventionen; sie hielten die Bilder für einen unverfälschten Ausdruck individuellen Gestaltungswillens.
Der in Berlin und Soest lebende Künstler Klaus-Peter Kirchner hat sich in seinem aktuellen künstlerischen Schaffen eingehend mit Selbstäußerungen von Frauen beschäftigt, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in psychiatrischen Einrichtungen lebten und sich mit der Erschaffung eigener Weltbilder gegenüber den totalitären Institutionen zu behaupten suchten. Diese autonomen Individualisierungsbestrebungen äußern sich auch in den Anagrammen der surrealistischen Autorin Unica Zürn, Lebensgefährtin von Hans Bellmer, die unter Schizophrenie litt. Insbesondere aus ihrer produktiven Lust an der Zerstörung von Wörtern und Sinn - die Gedichte bestehen Zeile für Zeile aus denselben, immer wieder anders zusammen gesetzten Buchstaben - schöpft Kirchner für die Entwicklung einer neuen Formensprache. Mit hohem Assoziationspotential aufgeladene Bilder, Objekte, Zeichen und Symbole löst er aus ihrem ursprünglichen Kontext, um sie in völlig neue Zusammenhänge zu setzen. Die in den letzten Jahren entstandenen Arbeiten sind eindringliche Plädoyers für künstlerische Freiheit. Angeregt von den Ergebnissen seiner Kurse für künstlerisch begabte Menschen mit geistiger Beeinträchtigung, rührt Kirchner mit seinen Werken an existentielle Befindlichkeiten als Quelle der Kreativität. Eigens für die Ausstellung im Kunstmuseum Ahlen geschaffene Bilder, Objekte und Installationen treten mit älteren Arbeiten in einen Dialog und eröffnen Räume für umfassende ästhetische Erlebensmomente. Klaus-Peter Kirchner fragt nach dem Ursprung der Bilder und dem Wesen der Kunst, nach der Grenze zwischen Norm und Abweichung und nach dem Verhältnis von Ästhetik und Emotion.