Ausstellungsforum-Graphikkabinett:
Die Ausstellung aus der Sammlung des Nationalmuseums Stettin bietet anhand von Werken bedeutender Graphiker ein vielschichtiges Spektrum der Kunst der letzten Jahrzehnte des 19. Jh. und der ersten des 20. Jh. Gegen Ende des 19. Jh. setzte eine grundlegende Erneuerung in den bildenden Künsten ein, die die erstarrten und inhaltsleeren Ausdrucksformen jener Epoche aufbrechen und zu neuen ästhetischen Formen führen sollte. Die künstlerische Avantgarde hatte sich nicht nur durch das sich öffnende Japan für die artifizielle Kunst des fernen Ostens begeistern lassen, auch die Erlebnisse und Eindrücke der Künstler auf ausgedehnten Reisen durch die Inselwelt Ozeaniens verhalfen neuartigen Bildformen und exotischen Inhalten zum Durchbruch. Die neuen Richtungen entwickelten sich damals in zahlreichen Kunstzentren wie München, Düsseldorf, Berlin, Dresden, Wien und Stuttgart, aber auch in vielen abgelegenen Künstlerkolonien, vor allem in Norddeutschland und entlang der Ostseeküste. Deutschsprachige Künstler ergänzten ihre Ausbildung in der damaligen Kunstmetropole Paris, „der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ (Walter Benjamin), und ließen sich von der dortigen Moderne anregen. Von unterschiedlichen Richtungen und Strömungen ausgehend, von der Spätromantik über den Symbolismus und Jugendstil hin zum Impressionismus in seiner spezifisch deutschen Prägung konnten sich so einzelne Kunstrichtungen wie der deutsche Expressionismus, der sich von dem europäischen deutlich unterschied, und die Neue Sachlichkeit, einer eigenen Kunstbewegung in Zentren am Rhein, an der Elbe und der Spree, entfalten und entwickeln.
In der Ausstellung werden 60 Graphiken – Radierungen, Lithographien und Holzschnitte – von Vertretern avantgardistischer Richtungen und Strömungen gezeigt, die man unter dem Sammelbegriff klassische Moderne fasst. Darunter befinden sich Werke von ausgewählten Künstlern, die zeitweise oder ständig in Stettin tätig waren: Otto Hettner, der die Fresken für das Stadtmuseum entwarf, und Franz Friedrich Schütt, Mitbegründer und erster Vorsitzender des Pommerschen Künstlerbundes. Weiterhin laden Werke u. a. von Max Liebermann, Käthe Kollwitz, Max Klinger, Lovis Corinth, Max Pechstein, Max Slevogt, Emil Orlik, Egon Schiele, Emil Nolde, Ernst Barlach, Alfred Kubin, Paul Klee, Conrad Felixmüller, Alexander Kanoldt und Emil Orlik dazu ein, nicht nur die unterschiedlichen künstlerischen Drucktechniken in hervorragenden Abzügen kennen zu lernen, sondern auch entlegene Winkel graphischer Künste in deutschsprachigen Ländern zu erkunden. Der mit Mecklenburg, Pommern und durch das Grabmal „Mutter Erde“ (1921) auf dem Stettiner Zentralfriedhof auch mit der ehemaligen Hauptstadt der Provinz Pommern und der Hauptstadt der polnischen Wojewodschaft Westpommern verbundene Ernst Barlach ist in der Ausstellung mit zwei Arbeiten vertreten: dem expressionistischen Holzschnitt Gruppe im Sturm von 1919, auf dem ein Bauernpaar und ein abgemagertes Pferd den Unbilden der Naturgewalten ausgesetzt sind, und dem 1922 erschienenen Drama Der Findling, das er mit eigenen Holzschnitten illustrierte. Da die Ausstellung in einem Museum präsentiert wird, das das Andenken an Ernst Barlach pflegt und seinen Nachlass bewahrt, wurde bei der Auswahl der Arbeiten und bei ihrer Anordnung das hervorgehoben, was sie mit der Kunst Barlachs verbindet. Die Graphiken sind in vier thematischen Gruppen zusammengestellt. Benannt wurden diese Gruppen nach Titeln von vier illustrierten Büchern und Mappenwerken bzw. Bildzyklen Barlachs, die im Verlag Paul Cassirer erschienen waren. Im Teil Die Wandlungen Gottes sind Szenen der christlichen Ikonographie in der damals wieder auflebenden Holzschnitttechnik mit alltäglichen Genres zusammengefasst, deren Komposition den traditionellen Passionsdarstellungen folgt. Der Teil Kriegs- und Notzeit umfasst Graphiken, die verschiedene Aspekte von Gewalt zeigen und das physische wie auch das psychische Elend des Menschen verbildlichen. Das Leitmotiv des Teils An die Freude bilden die einheimische, idyllische Natur, die Exotik Ozeaniens und die künstliche Welt des Theaters, die allesamt die menschlichen Wunschträume, Sehnsüchte und Phantasien widerspiegeln. Im Teil Der Kopf sind Porträts sowohl namenloser Menschen als auch bekannter Persönlichkeiten – Künstler, Schriftsteller und Gelehrte – zu sehen.