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Ernst Barlach Stiftung Güstrow - Gertrudenkapelle, Atelierhaus, Ausstellungsforum


Gertrudenkapelle: Gertrudenplatz 1 Atelierhaus, Graphikkabinett: Heidberg 15
18273 Güstrow
Tel.: 03843 844 000
Homepage

Öffnungszeiten:

Apr-Okt: Di-So 10.00-17.00 Uhr
Nov-Mär: Di-So 11.00-16.00 Uhr

Verfemt – verfolgt – beschlagnahmt: Künstler der klassischen Moderne

11.08.2013 - 24.11.2013

Die Verfolgung von Künstlern der klassischen Moderne in Deutschland setzte nicht erst mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Januar 1933 ein. Der Anfang April 1930 vom NS-Volksbildungsminister Thüringens Wilhelm Frick ergangene Erlass „Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum“, der sich gegen die moderne Kunst richtete, kann als der Ausgangspunkt der Angriffe auf die als „undeutsch“ empfundene Kunst der europäischen Moderne gelten. Bis etwa 1934 gab es in der kulturellen Führung des neuen NS-Staates einen Richtungsstreit, ob nicht doch etwa der Expressionismus als der deutsche Ausdruck moderner Kunst zur offiziellen Kunstrichtung erklärt werden solle. Schließlich setzte sich eine seichte „Blut-und-Boden-Kunst“ als offizielle Richtung durch, wie sie von 1937 bis 1944 in der jährlichen Ausstellung im Haus der Deutschen Kunst München zu sehen war. Einen Höhepunkt erreichte der nationalsozialistische Kampf gegen die Moderne in der Beschlagnahmeaktion „Entartete Kunst“ vom Juli bis August 1937. Dabei wurden systematisch deutsche Museen nach Werken der „Verfallskunst“ durchsucht und beschlagnahmt. Nach aktuellem Forschungsstand der Forschungsstellte „Entartete Kunst“ der Freien Universität Berlin wurden über 21.000 Werke beschlagnahmt. Davon wurden nachweislich über 5.000 vernichtet. Ein Großteil, etwa 8.700 Arbeiten, wurde zum Zweck der Devisenbeschaffung ins Ausland verkauft. Der Verbleib der übrigen Werke ist bis heute unbekannt.
Vier deutsche Kunsthändler waren vom Propagandaministerium in Berlin autorisiert, mit diesen beschlagnahmten Werken zu handeln. Bernhard A. Böhmer (1892-1945), seit Ende der 1920er Jahre Sekretär und Gehilfe Ernst Barlachs (1870-1938) in Güstrow, gehörte zu ihnen. Er hatte enge Beziehungen zu Dr. Rolf Hetsch, dem für die Verwertung von beschlagnahmter „Verfallskunst“ zuständigen Beamten im Propagandaministerium. Seit 1938 handelte Böhmer mit der sogenannten „entarteten Kunst“ und übernahm nach dem offiziellen Abschluss der „Verwertung“ am 30. Juni 1941 Restbestände dieser Kunstwerke. Bis zu seinem Freitod im Mai 1945 lagerten die von Böhmer erworbenen Werke zum Teil in Barlachs Atelierhaus und in einem nahe gelegenen Gebäude in Güstrow-Schabernack. Der im Nachlass Böhmer verbliebene Rest wurde im Juli 1947 durch Kurt Reutti, Zentralstelle für Volksbildung, auf der Grundlage des Befehls Nr. 124 der Sowjetischen Militäradministration vom 30.10.1945 beschlagnahmt und in das Kulturhistorische Museum Rostock verbracht. Dieses Konvolut umfasst heute 613 Werke (17 Gemälde, 6 Plastiken, 23 Aquarelle, 20 Zeichnungen, 537 Druckgraphiken). Im Frühjahr 2009 erfolgte die endgültige Vermögenszuordnung dieses Böhmer-Nachlasses durch die Bundesrepublik Deutschland an das Kulturhistorische Museum Rostock.
Mit dem Nachlass Böhmer hat sich ein einmaliges Zeugnis der Kulturgeschichte Deutschlands aus der Zeit des Nationalsozialismus erhalten, der weltweit einzigartig ist. In unserer Ausstellung werden etwa 50 Arbeiten aus diesem Bestand gezeigt. Die Auswahl erfolgte weitgehend unter dem Gesichtspunkt „Bildhauerei“, wobei der Kopf in Messing (1925) von Rudolf Belling (1886-1972) zu den Ikonen der modernen Plastik zählt. Die Werke der hier gezeigten Bildhauer, Maler und Graphiker verdeutlichen einmal mehr, wie vielfältig sich die klassische Moderne nicht nur in den künstlerischen Techniken darstellt. Sie zeigen zudem eine Breite der künstlerischen Artikulation, die von abstrakt-konstruktivistischen und futuristischen Arbeiten bis zur Neuen Sachlichkeit reicht. Zu den Werken werden auch die ehemaligen Standorte angegeben und es lässt sich erahnen, welch substantiellen Verlust manches deutsche Museum durch die infame Aktion „Entartete Kunst“ erlitten hat. Bis heute konnten diese Verluste durch Ersatzerwerbungen nicht ausgeglichen werden, so dass die Ideologie der Nationalsozialisten bis in unsere Gegenwart ihre verheerenden Spuren sichtbar hinterlassen hat.

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