17.04.2011 - 05.06.2011
Die Schwenninger 'Lovis-Presse' als Ort der ersten freien Kunstproduktion nach dem II. Weltkrieg
"Ich konnte den Anblick der tausenden gefrorenen Leichen, die wie Holzbretter übereinander gestapelt waren, und die von Granaten zerfetzten Soldaten, zehntausende verstümmelte Menschen, nicht mehr ertragen. Ich bin Arzt geworden um den Menschen zu helfen", erzählte Dr. Franz Georg Ludwig (Lovis) Gremliza von seinen Erlebnissen im II. Weltkrieg bei der Übergabe der von der Stadt Villingen-Schwenningen angekauften grafischen Werke der 'Lovis-Presse' im Herbst 1988. Damals, vor 23 Jahren, waren 39 Radierungen, Holzschnitte, Lithografien und Grafikmappen von Curth Georg Becker, Otto Dix, Werner Gothein, Erich Heckel, Walter Herzger, Erich Kuhn, Gertraud Rostosky und Wilhelm Schnarrenberger, die von 1947 - 1949 in der Neckarstadt entstanden sind, im Rahmen der Landeskunstwochen Baden-Württemberg an ihrem Ursprungsort gezeigt worden. Und zum ersten Mal wurde einer kunstinteressierten Öffentlichkeit bewußt, welches bedeutende Kapitel Kunstgeschichte die Schwenninger 'Lovis-Presse' unmittelbar nach dem II. Weltkrieg geschrieben hatte.
Der Gründer der 'Lovis-Presse' Dr. Gremliza, 1912 in Stuttgart geboren, war in einem sozialdemokratisch geprägten Elternhaus aufgewachsen und verbrachte seit seinem 14. Lebensjahr seine Ferien als Austauschschüler in Paris. Nach dem Abitur studierte er Medizin in Würzburg und auch im französischen Nancy. 1944 kam er direkt von der russischen Front als Arzt in die Neckarstadt und übernahm die vakante Praxis des 84-jährigen Kollegen Dr. Fritz Seeger. In der Uhrenstadt kannte Dr. Gremliza den Apotheker Dr. Werner Seufert, ein Freund aus Würzburger Studientagen. Die Reichsärztekammer hatte ihm nach seiner Entlassung als Stabsarzt d.R. auch freie Arzt-Stellen in St. Anton oder in Stuttgart angeboten, doch die kamen für ihn nicht in Frage: "St. Anton in den Bergen war mir zu kalt und in Stuttgart sollte ich in einem Konzentrationslager arbeiten. Das konnte und wollte ich nicht."
Als am 20. April 1945 marokkanische Kampfeinheiten sich der Stadt Schwenningen näherten, waren die braunen Schärgen auch hier längst geflohen; der Krieg war in Schwenningen vorbei. Bereits am 1. Mai 1945 veröffentlichte Dr. Gremliza ein mehrseitiges mit Schreibmaschinendurchschlägen vervielfältigtes Flugblatt mit dem Titel 'Der Samowar Nr. 1', dem am 8. Mai 1945 - dem Tag der offiziellen Kapitulation - eine zweite Ausgabe folgte. In diesen Flugschriften publizierte Dr. Gremliza Texte ehemals von den Nationalsozialisten verbotenen Autoren und mit "Jakob Wassermann und Erich Kästner erhob er Anklage gegen den deutschen Haß und rief mit Gedichten von Gertraud Rostosky und Max Dauthendey dazu auf, nach verborgenen Quellen neuer Hoffnung zu suchen", schreibt die Kunsthistorikerin Veronika Mertens im 'Bestandskatalog; Sammlung Dr. F.G. Lovis Gremliza; Die Künstler der Lovis-Presse'.
Die französische Besatzungsmacht ernannte den frankophilen Arzt bald zum Chef der für die Umerziehung der deutschen Bevölkerung erdachten Einrichtung des Centre d'Information, und 1947 gründete Dr. Gremliza die 'Lovis-Presse', in der Bücher und Grafikmappen verlegt und Kunstausstellungen organisiert wurden. Die Kontakte zu Künstlern, die im Süden des Landes eine neue Heimat gefunden hatten, vermittelte seine Würzburger Freundin Gertraud Rostosky. Sie kannte den berühmten Brücke-Künstler Erich Heckel, der in Hemmenhofen wohnte, aus der Zeit, als sie einen 'Salon' in Würzburg führte, in dem aktuelle Literatur, Musik und Kunst reflektiert wurde. Heckel machte Dr. Gremliza mit dem Kirchner-Schüler Werner Gothein, der in Unteruhldingen Unterschlupf gefunden hatte, bekannt und informierte auch Otto Dix darüber, daß in Schwenningen Auflagendrucke hergestellt werden konnten. Eine Sensation in den Zeiten größten Warenmangels.
So kam es, daß die Schwenninger 'Lovis-Presse', neben der 'eidos-Presse' in Stuttgart, die erste Handpresse in Deutschland war. In Zusammenarbeit mit dem erfahrenen Lithographen Alfons Himmelsbach - er war vor dem Krieg an der Kunstakademie in Stuttgart beschäftigt und hatte Lohn und Brot beim Hermann-Kuhn-Verlag gefunden - entstanden Auflagendrucke, die erste Einkommen für die Künstler ermöglichten. Zudem ist mit der Publikation 'Die Tierkreiszeichen' von Werner Gothein der erste bibliophile Pressenband im Nachkriegsdeutschland in der Stadt am Necker erschienen.
In Folge des Ankaufs der 39 Auflagendrucke aus der 'Lovis-Presse' im Jahr der Landeskunstwochen wurden im Laufe der Zeit durch die Städtische Galerie das künstlerische Schaffen der 'Lovis-Presse'-Künstler in Einzelausstellungen vorgestellt. Es begann mit Ölbilder, Aquarelle und Zeichnungen von Walter Herzger Ende 1988. Von Werner Gothein waren Ölbilder, Keramiken, Zeichnungen und Holzschnitte und Aquarelle und Grafik von Gertraud Rostosky 1989 zu sehen. Eine weltweit beachtete Ausstellung trug 1990 den Titel 'Otto Dix - zum 99.; Kinderwelt und Kinderbildnis' und zeigte erstmals die Kinderbilder-Bücher von 1922 für 'Muggeli' (dem Sohn seiner späteren Frau Martha Koch) und für den gemeinsamen Sohn Ursus von 1930. Bilder und Aquarelle von Wilhelm Schnarrenberger waren 1993 ausgestellt und 2010 konnte in der Ausstellung 'Erich Heckel - Der stille Expressionist' Einblick in das Schaffen des großen Brücke-Künstlers genommen werden.