Die Deichtorhallen Hamburg zeigen in Zusammenarbeit mit der Kunsthalle Tübingen in der Sammlung Falckenberg in Harburg den bislang größten retrospektiven Überblick über das skulpturale, fotografische und filmische Werk des spanischen Künstlers Santiago Sierra (*1966 in Madrid). Die Ausstellung wurde von Dirk Luckow kuratiert und umfasst mehr als 70 Arbeiten.
Sierra ist für seine provokanten Performances weltweit bekannt. Es gibt wohl kaum einen europäischen Künstler, an dessen Werken sich die Gemüter mehr erhitzen, kaum ein Werk, das mehr Widerspruch hervorruft. Mit seinen Arbeiten thematisiert Sierra die strukturelle Gewalt politischer und wirtschaftlicher Systeme. Für sein Werk »250 cm line tattooed on 6 paid people« ließen sich sechs nebeneinander stehenden jungen Kubanerern , die sich für 30 Dollar eine durchgehende Linie auf den Rücken tätowieren; 2003 ließ er den Eingang des spanischen Pavillon auf der Biennale in Venedig bis auf eine kleine Öffnung zumauern und gewährte nur den Inhabern spanischer Pässe Zutritt; in einer sehr umstrittenen Aktion in Deutschland leitete er in eine Synagoge in Stommeln Autoabgasen und verwandelte diese in eine Todeskammer; er ließ Menschen gegen geringes Entgelt Arbeiter stundenlang in Pappkartons verharren, eine umkippende Wand stützen oder öffentlich masturbieren.
Sierra konfrontiert die Betrachter mit einer äußeren Wirklichkeit, in der ökonomische Ausbeutung, Billiglöhne, Sich-Prostituieren oder das Verdrängen der Vergangenheit an der Tagesordnung sind: »Meine Arbeit ergreift Partei für das vom Kapitalismus zerstörte Leben. Und Kapitalismus ist für mich die ökonomische Spielart des Sadismus.« Sierra führt mit seiner Kunst einen Angriff nicht nur gegen ungerechte Verteilung des Reichtums und unmenschliche Arbeitsbedingungen, sondern kritisiert mit ihr vor allem das innerhalb der kapitalistischen Gesellschaften dominierende positive Image von Arbeit.
Er bilde in seinen Werken nicht seine Wünsche, sondern die Realität ab – diese Äußerung Santiago Sierras steht eigentlich in krassem Widerspruch zur minimalistischen Abstraktion und Reduktion, die viele seiner Arbeiten formal kennzeichnet. Andererseits bekennt sich der spanische Künstler mit dieser Aussage zur »objektiven Form« als vorrangigem Ziel der Minimalisten. Die Ausstellung der Deichtorhallen Hamburg in der Sammlung Falckenberg in Harburg unterstreichen diese formalen Qualitäten seiner Werke. Gezeigt werden neben Sierras Skulpturen auch Fotografien, filmische Werke, Installationen und Objekte. Ergänzt wird die Ausstellungen durch einen »Memorabilia«- Raum, in dem Plakate, Einladungskarten, Dokumente, aber auch Skizzen zu Aktionen und Konstruktionen aus über zwei Jahrzehnten zu sehen sind.
Die Ausstellung in der Sammlung Falckenberg lässt Sierras Entwicklung in der Auseinandersetzung unter anderem mit dem Minimalismus und der Konzeptkunst nachvollziehbar werden. Dabei sind die meisten seiner Werke Relikte von Performances; Zeichnungen etwa werden gar nicht um ihrer selbst willen gehängt. Sierras Werk ist von klaren Regieansagen bestimmt. Das beginnt bei der fotografischen oder filmischen Dokumentation, die ohne eigentliche fotografische oder filmische Ästhetik ist. Sierras großformatige, schwarz-weiße Fotografien sind oft grobkörnig und dokumentieren seine in der Regel öffentlichen Performances. Mit Künstlern wie Joseph Beuys, Richard Serra oder Franz Erhard Walther verbindet Sierra zudem die skulpturale Ästhetik.
Darüber hinaus besteht eine enge Beziehung zwischen Santiago Sierra und der Stadt Hamburg. Nicht nur, dass sich wichtige fotografische Werke Sierras im Besitz der Sammlung Falckenberg befinden, vor allem seine Zeit an der Hochschule für bildende Künste war prägend für ihn. Sierra besuchte dort Anfang der 1990er Jahre die Klassen von Franz Erhard Walther, Bernhard Blume und Stanley Brouwn. Hier insbesondere liegen seine künstlerischen Wurzeln. »Was für andere Künstler die Sixtinischer Kappelle bedeutete, war für Santiago Sierra der Hamburger Hafen«, sagt Dirk Luckow, Intendant der Deichtorhallen. Erstmals sind hier frühe Fotografien Sierras aus der Hamburger Zeit zu sehen (Schutt- und Aschehalden). Die frühen skulpturalen Arbeiten Sierras, die z.T. noch während seines Studiums in Hamburg entstanden, sollen in einzelnen Fällen rekonstruiert oder fotografisch dokumentiert werden, beispielsweise minimalistisch anmutende Kuben aus LKW-Planen.
Seit seinem aufsehenerregenden Beitrag zur Biennale von Venedig 2003 ist Sierras Bekanntheitsgrad enorm gestiegen. Als einer der renommiertesten Künstler Spaniens sollte er 2010 den mit 30.000 Euro dotierten Spanischen Nationalpreis für bildende Künste, den Premio Nacional de Artes Plásticas de España, erhalten. Doch Sierra lehnte ab und erklärte, er wolle sich nicht vom Staat instrumentalisieren lassen.