Die Neue Pinakothek besitzt eine herausragende Sammlung an Gemälden, die den Mythos Italien als romantisches Sehnsuchtsmotiv inszenieren. Viele von ihnen kamen durch den Gründer des Museums, König Ludwig I., in die Sammlung. Seit dem vergangenen Jahr verfügt die Neue Pinakothek nun auch über eine bedeutende Sammlung an frühen Fotografien aus Italien: die rund 9700 Aufnahmen aus der Zeit von 1846 bis 1900, die der Pinakotheks-Verein in Verbindung mit der Ernst von Siemens Kunststiftung und der Sparkassen-Finanzgruppe von Dietmar Siegert erworben und dem Museum als Dauerleihgabe übergeben hat. Die Ausstellung "Pathos und Idylle" bietet nun einen Einblick in den Reichtum dieser jüngst erworbenen Sammlung und zeigt eine Auswahl von rund 100 Aufnahmen der namhaftesten Fotografen.
Fotografie und Malerei haben die Wahrnehmung Italiens seit dem 19. Jahrhundert nachhaltig geprägt. Bildende Künstler reisten dorthin, um in Studien und Gemälden die südliche Natur und das Volksleben darzustellen. Fotografen folgten ihnen darin, erschlossen aber rasch weitere Aufgabenfelder wie die Denkmäler- und Ereignisfotografie. Eine stetig wachsende Zahl von Reisenden erkundete die berühmten Landschaften, Kunstschätze und historischen Stätten. Aus der exklusiven Grand Tour entwickelte sich der moderne Tourismus. Die Reisenden waren Publikum und Kunden für Maler und Fotografen.
In einführenden Kapiteln werden exemplarisch Besonderheiten und Gestaltungsmittel der frühen Fotografie in Italien vorgestellt. Die Anfänge in Rom sind in der Ausstellung mit einigen der frühesten dort entstandenen Aufnahmen, unter anderem von Calvert Richard Jones, dokumentiert. Es folgen Schwerpunkte des fotografischen Bildes wie Natur- und Wolkenstudien, die Skulpturenfotografie oder die Genredarstellung. Außerdem werden Gestaltungsmittel wie Tonwertabstufungen, Perspektive und Lichtreflexe an herausragenden Beispielen vorgestellt.
Im weiteren Rundgang werden in fünf Sälen – von den Nazarenern bis zu den Deutsch-Römern – ausgewählte Fotografien unmittelbar zu den Gemälden der Sammlung in Beziehung gesetzt. Dabei treten Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede zutage. Im Bereich der Landschaftsmalerei werden den heroischen Landschaften von Joseph Anton Koch und Johann Christian Reinhart, die die Natur Italiens in der Tradition des Erhabenen inszenieren, die großformatigen Aufnahmen von James Anderson und James MacPherson gegenübergestellt, die Wasserfälle, Felsen und antiken Ruinen auf vergleichbar pathetische Weise ins Bild setzen.
Im Saal der Deutsch-Römer, wo in den Gemälden Arnold Böcklins die arkadische Idylle beschworen wird, begegnet der Besucher den einfühlsamen Naturstudien von Giacomo Caneva und Carlo Baldassare Simelli sowie der sentimentalen Vergegenwärtigung des antiken Italiens in den Fotografien von Wilhelm von Gloeden und Wilhelm Plüschow.
Bei den Genredarstellungen werden den Gemälden von Friedrich Overbeck und Wilhelm von Schadow frühe Fotografien von Giacomo Caneva und Enrico Béguin hinzugefügt, deren weibliche Modelle dieselbe Aura von Unschuld und Natürlichkeit umgibt wie die Frauengestalten der Nazarener. Anders dagegen die Gegenüberstellung im Saal der gründerzeitlichen Historienmalerei: Während die großen Leinwände Wilhelm von Kaulbachs und Carl Theodor von Pilotys weltgeschichtliche Ereignisse als großes Theater inszenieren, setzt die Fotografie das Moment des Authentischen dagegen: Stefano Lecchi und Luigi Sacchi zeigen die Kriegschauplätze des Risorgimento, subtile und bewegende Dokumente des folgenreichsten Ereignisses in der italienischen Geschichte dieser Epoche.
Der Gang durch die Neue Pinakothek bietet damit in den kommenden Monaten nicht nur einen Einblick in die Geschichte der Wahrnehmung Italiens in Fotografie und Malerei, sondern auch einen Einblick in das Verhältnis der beiden Schwesterkünste, von denen die eine, die Malerei, einen traditionellen Geltungsanspruch besitzt, während die andere, die Fotografie, erst im 20. Jahrhundert zur vollgültigen Anerkennung als bildkünstlerisches Medium gelangt ist.