Dieser Tweet steht seither für mehr als nur einen Slogan oder eine öffentliche Solidaritätsbekundung. Millionen von Menschen bezeugten durch diese sprachliche Geste, die im selben Augenblick zu einem freiheitlichen Symbol der individuellen Meinungsäußerung wurde, dass sie sich ganz persönlich mit Charlie Hebdo identifizieren: „Ich bin Charlie“!
Hanna Nitsch setzt sich in ihrem künstlerischen Werk mit den Fragen bildnerischer sowie erzählerischer Herrschaftsformen zur Konstruktion individueller und kollektiver Identitäten auseinander. Es geht ihr dabei nicht primär um die Dechiffrierung oder Dekonstruktion universeller oder essentialistischer Identitätskonzepte. Vorrangig fasziniert sie das Phänomen „Identität“ als Mensch, also als Individuum innerhalb einer sich rasant wandelnden Gesellschaft, als Bewohner einer Welt voller Differenzen und zugleich als Künstlerin, also als aktive Bildproduzentin, in einer Zeit, in der unsere gesamte Lebens- und Alltagswelt einer umfassenden Medialisierung unterworfen ist. Nicht zuletzt ist es eben diese innere Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit dem Differenten, die das künstlerische Werk von Hanna Nitsch in den Bereich des Politischen hineinragen lässt.
So spürt die Künstlerin seit vielen Jahren den verborgenen, subjektkonstituierenden Funktionen des Bildes nach und untersucht dabei die Strukturen und Formen visueller Repräsentation als identitätsstiftendes Moment. Seitdem begegnet uns im nunmehr weitverzweigten Werk der Künstlerin immer wieder diese eine, ständig wiederkehrende, äußerst wandelbare, weibliche Figur. Sie erscheint uns dort zugleich als Protagonistin, künstliche Person, Stellvertreter, Archetyp und Avatar. Über die Omnipräsenz dieser Individualgestalt innerhalb ihrer künstlerischen Arbeit, zeichnet die Künstlerin ein äußerst komplexes und vielschichtiges Bild „einer“ Welt, die sich durch unterschiedliche Herrschaftsformen stereotyper Darstellungs-, Repräsentations- und Erzählweisen konstituiert.
In ihrem gattungsübergreifenden Werk werden dabei stets die medienspezifischen Funktionen und Wirkungsprinzipien der Konstruktion und Festschreibung von Identität beleuchtet. In den Fotoserien entreißt die Künstlerin ihre Protagonistin einer von uns als Betrachter vorgestellten kontinuierlichen Zeit und überführt sie in einen Zustand der Dauer. Zwischen den Gefühlen des dauernden zeitlichen Aufschubs und einem uneinholbaren Verlust des Dagewesenen, wird uns so die medienspezifische Doppeldeutigkeit des Fotografischen eindringlich vermittelt. In ihren Videoprojekten fokussiert sich Hanna Nitsch immer wieder auf filmische Formen der Narration zur Subjekt- und Realitätskonstruktion. Insofern der Film aber auch eine künstlerische Selbstermächtigungsstrategie z.B. durch Selbstbenennung oder Selbstnarration darstellt, verweist er zugleich auch darauf, dass kollektive Identitätspolitik, bei Nitsch repräsentiert durch Straßenkampfszenen, Demonstrationen oder Militärparaden, eine wirkungsmächtige Funktion zur Konstruktion kollektiver Identitäten darstellt. Das Element der Sprache unterstreicht dabei ganz grundsätzlich, dass Kunst auf vielen Ebenen außerhalb des rein Visuellen stattfindet und dass schließlich die Probleme von Identität und Subjektivität untrennbar verbunden sind mit sprachlichen Strukturen, die sie formen.