29.10.2009 - 31.01.2010
Das Museum Villa Stuck zeigt die erste umfassende Ausstellung über den Maler und Lebensreformer Karl Wilhelm Diefenbach (1851–1913). Barfuß und in Kutte gekleidet, machte er Ende des 19. Jahrhunderts als exzentrische Künstlerpersönlichkeit nicht nur in der bayerischen Hauptstadt von sich reden.
Vor dem Münchner Hofbräuhaus wetterte er »gegen den Verzehr von Tierfetzen« und sah im »Tiermord« die Ursache für den »menschenmordenden Krieg«. Er besuchte an der Seite der späteren Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner den Friedenskongress 1898 und propagierte Licht- und Luft-Bäder des nackten Körpers. Deren praktische Umsetzung führte dazu, dass er sich wegen »groben Unfugs« im Rahmen des ersten »Nudistenprozesses« in der deutschen Geschichte verteidigen musste.
Diefenbachs Suche nach neuen Wegen führte ihn aus dem Schwabinger »Wahnmoching« ins abgeschiedene Isartal, von dort über Wien, Kairo und Triest schließlich auf die von Bohemiens und Künstlern besuchte und besiedelte Mittelmeerinsel Capri, wo er 1913 starb und in Vergessenheit geriet. Sein Leben war dabei geprägt von einem immerwährenden Scheitern, das ihn von Ort zu Ort trieb, wobei er seine künstlerische Identität, die sich schon früh ausbildete, nie verleugnete oder aufgab.
Die Ausstellung im Museum Villa Stuck zeigt Gemälde Diefenbachs sowie Arbeiten auf Papier, dazu Werke seiner Schüler Hugo Höppener, gen. Fidus, Gusto Gräser und František Kupka sowie zahlreiche Fotografien und Dokumente. Im Mittelpunkt steht Diefenbachs monumentaler Fries »Per aspera ad astra« (lat. »Auf rauer Bahn zu den Sternen«) aus dem Jahr 1892, den er gemeinsam mit Fidus malte. Auf einer Gesamtlänge von 68 Metern zeigt Diefenbach, ähnlich einem Scherenschnitt, sein persönliches Glaubensbekenntnis, das in Szenen nackter, kindlicher Fröhlichkeit an dem Betrachter vorüberzieht.
Diefenbachs Weltanschauung bewegte sich zwischen den ideologischen Geboten der prüden Gründer-zeit und dem lebensreformerischen Kampf des freien Individuums. Dies macht ihn zu einer Inkarnation des revolutionären Aufbruchs um 1900 – immer noch im Zwiespalt mit der gesellschaftlichen Norm, noch nicht so konsequent wie die nachfolgende Generation, für welche er aber Pionier und Vorkämpfer war. Diefenbach kann als »Kulturschöpfer« gelten, dessen »Anschauungen«, so sein Jünger Fidus, »Grundsinn der modernen Kultur geworden sind«: Sein Leben war ein Kampf für die Umsetzung seiner Ideale mit dem Ziel eines irdischen Paradieses. Diese Utopie stand einerseits in direktem Gegensatz zu seinen persönlichen Lebensumständen und andererseits in Kontrast zu Industrialisierung und entstehenden Großstädten, Massenbevölkerung, Armut und Luftverschmutzung, militärischer Aufrüstung und Krieg, das heißt zu Not und Elend bei einem Großteil der Bevölkerung.
Es waren Diefenbachs Schüler, die weitere Konsequenzen zogen: František Kupka, auf der Suche nach Ursprünglichkeit und Reinheit, fand seinen künstlerischen Weg in die Abstraktion. Hugo Höppener, gen. Fidus, orientierte sich in Richtung einer deutsch-völkischen Illustrationskunst, hoffte jedoch vergeblich auf Aufträge aus dem nationalsozialistischen Berlin. Diefenbachs »Bruder im Geiste«, Gusto Gräser, verfolgte eine ganz und gar unpolitische Erneuerung auf der Basis einer naturgemäßen Lebensweise und schuf mit der Siedlung auf dem Monte Verità ein prominentes Experimentierfeld für verschiedenste Formen der Gegenbewegungen fern der »Zuvielisation«.
Gerade weil die Person Diefenbach die Aspekte des Kuriosen und Überzogenen in sich trägt, rückt die Ausstellung vor allem das künstlerische Werk des sogenannten »Kohlrabi-Apostels« ins Zentrum der Aufmerksamkeit. In Verbindung mit seinen kulturrebellischen Überzeugungen entsteht nicht nur das Bild Diefenbachs als Kind seiner Zeit, sondern gleichzeitig als Visionär der Zukunft.