Auguste Rodin (1840–1917) wirkte nicht nur stilprägend durch die Bedeutung, die er dem Fragment und dem Unvollendeten gab, sondern er erneuerte auch die Plastik, indem er sie um die Begriffe des Willkürlichen und Zufälligen erweiterte. Mit der Anerkennung des Zufalls integrierte er von seiner persönlichen Initiative unabhängige Elemente in sein künstlerisches Schaffen. Der Zu- oder Unfall wurde Teil des schöpferischen Prozesses. Rund um La Muse tragique und mit Hilfe grosszügiger Leihgaben des Musée Rodin zeigt die diesjährige Sommerausstellung des Musée d’art et d’ histoire, wie Rodin im Kampf gegen Skandale und Unverständnis ein Werk schuf, das den Weg für die Kunst des 20. Jahrhunderts ebnete.
Auguste Rodin: Begründer der modernen Plastik. Eine Behauptung, die zum Gemeinplatz geworden ist. Doch warum gilt der Künstler als Vorläufer? Ausgehend von La Muse tragique (Die tragische Muse), die seit 1896 in der Sammlung des MAH zu finden ist, setzte eine Reflexion um die Begriffe des Zufälligen und des Willkürlichen ein, die Aristoteles in seiner Poetik als Bestandteile der Kunst definierte: «Die Peripetie ist der Umschlag dessen, was erreicht werden soll, in das Gegenteil, und zwar gemäss der Wahrscheinlichkeit oder mit Notwend igkeit, wie im Ödipus des Sophokles...» So klassisch auch der Bezug auf den griechischen Philosophen sein mag, er setzt dennoch ein revolutionäres Vorgehen in Gang. Indem man das Accidens in die Materie der Kunst, genauer der Plastik, einführt, stellt man sich gegen die akademische Tradition, die alles auslöscht, was von den Zufällen des schöpferischen Prozesses zeugt, um lediglich die glatte, lesbare Spur der Idee und Absicht des Künstlers zu bewahren.
Eine Plastik zerbricht im Atelier, wie L’Homme au nez cassé (Der Mann mit der gebrochenen Nase) , dessen Gips an einem besonders kalten Tag in Stücke springt, um zu einer Maske zu werden, und den Rodin in Bronze giessen lässt; wie La Muse tragique, die vor dem Guss beschädigt, doch vom Künstler mit ihren Mängeln der Stadt Genf geschenkt wird. Diese beiden Werke belegen bereits die Modernität von Rodins künstlerischem Vorgehen, eine Modernität, die von seinen Zeitgenossen nicht immer verstanden wurde, wenn man beispielsweise an die Rezeption der Muse tragique denkt.
Diese Aspekte bilden den Leitfaden der neuen Ausstellung des Musée d’art et d’histoire in Genf. Die Schau profitiert von der aussergewöhnlichen Unterstützung durch das Musée Rodin in Paris, zu dessen herrlichen Leihgaben weitere Stücke aus Muse en wie dem Musée d’Orsay, dem Victoria and Albert Museum, der Neuen Pinakothek in München und der Fondation Beyeler hinzukommen. Zeichnungen, Fotografien, grosse und kleine Plastiken: rund 80 Werke ergänzen und erhellen den Fundus, den das Musée d’art et d’histoire Rodins eigener Grosszügigkeit verdankt.