08.11.2009 - 09.05.2010
Im Mittelpunkt der neuen Ausstellung, mit der die MEWO Kunsthalle ins fünfte Jahr startet, steht ein Projekt des Kölner Kunstsammlers Dr. Hartmut Kraft. Er ließ von 25 renommierten Künstlerinnen und Künstlern je ein großformatiges Faksimilebuch mit dem 1463 von Bernd Notke gemalten Totentanz in der Marienkirche zu Lübeck künstlerisch überarbeiten. Das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Werk des spätmittelalterlichen Meisters lebt in den Überzeichnungen, den Übermalungen und den Bearbeitungen von Enrique Asensi bis Giampiero Zanzi, gar einer Verbrennung von Peter Gilles höchst lebendig und gegenwartsnah weiter. Zahlreiche weitere Objekte und viele Totentanzarbeiten, angefangen bei Hans Holbein d.J., Daniel Hopfer oder Matthäus Merian d.Ä. im 16. Jahrhundert bis zur klassischen Moderne mit Beiträgen zum Thema von Ernst Barlach, Alfred Kubin, Max Klinger oder Alfred Rethel ergänzen die Kernidee der Ausstellung. Unterm Strich macht das gut hundert Arbeiten von etwa fünfzig Künstlerinnen und Künstlern. Als materielles Substrat schält sich aus dem Traditionsthema des Totentanzes das menschliche Skelett jenseits aller Metaphysik als relativ dauerhafter Restbestand des menschlichen Körpers heraus. Genau dieser menschliche Körper – Everybody – interessiert uns an der Schnittstelle, am Übergang vom noch begehrenswerten und geliebten Objekt/Subjekt zur schreckenverursachenden Sache, zur Leiche, die bei aller Pietät in gesellschaftlich ungeliebten und verborgenen, wenngleich geschützten Räumen der Gesellschaft (Pathologie, Seziersaal, Leichenschauhaus, Krematorium, Friedhof, Anatomie, Plastination) materiell entsorgt werden muss.
Der Focus dieses Themas wird nicht auf der Entsorgung des Körpers als Leiche an sich liegen, sondern auf Darstellungen, die die Reflexion in Bewegung setzen, wenn wir Körper, gegebenenfalls unseren Körper – everybody dies, but me! –, in dem unser Ich sich gut zu Hause fühlt, als Leiche denken. Deshalb wird die Ausstellung im Entree uns mit Abbildungen der Mumien von Palermo und mit einem Totentanz von 30 lebensgroßen Skeletten konfrontieren. Sie wird uns dann in einen Anatomiehörsaal, ein sog. Anatomisches Theater versetzen, in dem unsere Physis mitleidlos und sachlich in filmischer Präsentation abgehandelt wird. Vor dieser Abhandlung soll die äußerst merkwürdige Geschichte von Schneewittchen im gläsernen Sarg stehen, in der die Ambivalenz von noch körperlicher Schönheit und Leichentabu vorgestellt ist (Christiana Glidden: Death of Replicant, 1998).
Schneewittchen ist „nur“ eine Untote; sie braucht vielleicht den Flickwerker, den Schönheitschirurgen. Die wirklich toten Körper aber brauchen den Bodyworker, den Entsorger, den Abdecker, den Anatomen. Von den Darstellungen des flämischen Anatomen Andreas Vesalius, über das Röntgenauge bis zur Plastination menschlicher Körper wird der Blick des Besuchers geführt werden, der die Ambivalenz der sezierenden Bemühung um den Menschen – um das, was er ist, wenn er ist – erkennen soll: Studium an der Leiche zur medizinischen Vorsorge für den menschlichen Leib und Nachsorge an der Leiche als kriminalistische Aufklärung über die Verletzungen des Körpers zum Tode. Ein sehr intensiver Film, „Weg nach Eden“, wird von diesen verschwiegenen Abenteuern unserer Körperlichkeit erzählen, wie die Ausstellung auch ansonsten sich tapfer den Abenteuern unserer Körperwerdung von unserer Geburt bis zur Entsorgung des irdischen Rests stellt. Neben sehr eigenwilligen Aktfotografien von Gary Schneider, die mit der Grenze zwischen Körper und Leiche spielen, kann der Besucher sowohl vor den Totenporträts aus der Zeit um 1900 aus einer bürgerlichen Schweizer Sammlung eine existentielle Selbstbefragung veranstalten, als auch vor den zeitgenössischen Fotografien Sterbender und Verstorbener des Hamburger Fotografen Walter Schels sein persönliches „memento mori“ formulieren. Auch die „Visages de Morts“ von Rudolf Schäfer werden starke Akzente auf diese Thematik des letzten Bildes setzen. Die Bilder des menschlichen Körpers als Leiche der Amerikanerin Elizabeth Heyert (Travellers, 2006) bannen dagegen den postmortalen Körperkult Amerikas in stärkstem Kontrast zu unserem europäischen Bild vom Körper als Leiche, während die Bilder des Malers Jörg Madlener Liegende und Gesichtslose als glatte Gegenbilder zu einem Tod à la Hollywood zeigen. Sie sind die Reminiszenz an einen sinnlosen Tod im irakischen Wüstensand.
Hier wie überall sonst gilt der Grundsatz, den die MEWO Kunsthalle mutatis mutandis in allen Ausstellungen bisher durchzuhalten versucht hat: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“. Das gilt auch für die unzähligen fiktiven Leichen, die die harten Kriminalfälle ins schaurig Unterhaltsame spielen wie die großformatigen Bilder des japanischen Starfotografen Izima Kaoru (landscapes with a corpse). Er verdrängt das factum brutum unserer Körperlichkeit dekorativ ins Märchen von Schneewittchen. Auch die Todesartenserie von Claudia Reinhardt (Killing me softly), die wirkliche Übergänge, Selbstmorde berühmter Frauen, nachempfindet, gehört hierher. Bleibt am Ende dieser von dem Schweizer Dr. Fritz Franz Vogel und Kunsthallenleiter Prof. Dr. Kiermeier-Debre kuratierten Ausstellung eine ironische Replik auf Damien Hirsts brilliantenbesetzten Totenkopf, der zeigt, dass die Furie des Somatischen keine Barmherzigkeit kennt. Kein Preis der Welt verhilft zur Rettung vor ihr. Das ist eine harte Rede; wer kann sie hören?