Die Herzog August Bibliothek zeigt vom 3. Mai bis 15. November 2015 in der Bibliotheca Augusta eine neue Sonderausstellung mit dem Titel: „[HAB]: Gedanken am Rande. Marginalien in Bild und Text 800-1800“. Im Mittelpunkt stehen die am Rande von Handschriften und Drucken platzierten Bemerkungen, deren Funktionen im Zusammenhang mit Texten und Bildern veranschaulicht werden sollen.
Zur Ausstellungseröffnung in der Augusteerhalle begrüßte Helwig Schmidt-Glintzer, Direktor der Herzog August Bibliothek. Die Festrede mit dem Titel: „Rand und Zwischenraum. Zur kulturgeschichtlichen Bedeutung des Marginalen“ hielt Claudine Moulin, Universität Trier/Institut d‘études avancées de Paris. Vor dem anschließenden Rundgang gaben die Initiatoren und Kuratoren der Ausstellung Patrizia Carmassi, Mitarbeiterin der Handschriftenabteilung, und Christian Heitzmann, Leiter der Handschriftenabteilung der HAB, eine Einführung.
Die Ausstellung richtet den Blick auf die Bedeutung und Funktion von Marginalien in Handschriften, Drucken und Graphiken aus 1000 Jahren. Randnotizen reichen vom flüchtigen, unkonventionellen, persönlichen Eindruck von überlieferten Texten und Bildern bis hin zu einzigartigen Zeugnissen von Ausbildungs- und Lernprozessen. Aber auch technische und geistige Entwicklungen, historische Fakten und ihre zeitlich wahrgenommene Relevanz können in Randnotizen auftauchen. Darüber hinaus sind manchmal die Buchobjekte so konzipiert, dass die Grenzen zwischen Rand und Haupttext bewusst verwischt und fließend gelassen werden. Der Rand füllt sich und bekommt einen ähnlichen Stellenwert wie die zentral überlieferten Bilder oder Texte, bisweilen wird er sogar eigenständig.
In der Ausstellung werden Handschriften und Drucke des Jahrtausends zwischen 800 und 1800 zu sehen sein. Dicht gefüllte Seiten mittelalterlicher Bücher entführen in die Schreibstuben von Klöstern und in die Sammlungen von Königen. Randbemerkungen in Drucken mit gelehrten, frommen und unterhaltsamen Inhalten von der Reformationszeit bis zur Aufklärung veranschaulichen die intensive Auseinandersetzung der Leser mit ihrer Lektüre.
Marginalien enthalten Querverweise zwischen verschiedenen Gattungen, Disziplinen und Ereignissen, zwischen Kunst und Realität, zwischen Ebene und Metaebene. Sie erweisen sich so als ein hervorragendes Instrument zur sozial-historischen Forschung, das die üblichen systematischen Quellenanalysen ergänzt und neue Fragestellungen ermöglicht. Auch wenn ähnliche Vorgehensweisen von Aktualisierung und Kommentierung am Rande quer durch die Jahrhunderte zu beobachten sind, ist doch das Phänomen der Marginalie keinesfalls statisch. Es unterliegt sowohl dem Wandel in der Vorstellung vom Buch als Studien- und Repräsentationsinstrument als auch den künstlerischen Entwicklungen und Moden bei der Dekoration von Textanfängen und ganzen Seiten.
Texte am Rande dienen oft als Hilfsmittel zu Lehr- oder Lernprozessen, zur Kommentierung und Erläuterung des Haupttextes zum Beispiel im Bereich der Theologie, Philosophie, Rechts- oder Naturwissenschaft. Seit dem Frühmittelalter werden dazu Anmerkungen am Rande oder zwischen den Zeilen gemacht, gelegentlich gibt es auch Übersetzungen von Titeln und Fachbegriffen. Die Arbeit am Text in Form von Marginalien kann Jahrzehnte oder Jahrhunderte nach Entstehung des Buches geschehen: Dadurch sind die Notizen am Rande Zeichen einer lebhaften Auseinandersetzung mit der überlieferten Tradition. Andererseits konnten Leser und Eigentümer eines Buches den freien Rand immer auch als Raum nutzen, um persönlichen Gedanken, Eindrücke, Lebens- oder Leseerfahrungen festzuhalten, gegebenenfalls auch um Ergänzungen und Aktualisierungen von geschichtlichen Ereignissen zu dokumentieren. Die Marginalie kann sich deshalb dem Text gegenüber als Erweiterung, Präzisierung aber auch als Korrektur und Verneinung verhalten, wenn die Inhalte für falsch oder veraltet erklärt werden.
Bilder am Rande zeigen zum Teil ähnliche Phänomene und Bedürfnisse: Sie stellen Episoden, Begriffe oder Objekte, die im Text genannt werden, zur Erläuterung und zum besseren Verständnis des Textes dar. Sie können aber durch die Möglichkeiten des Mediums Bild zusätzliche Elemente hinzufügen, die der Text allein nicht ausdrücken kann. Damit können sie eigene Interpretationsakzente setzen und neue Inhalte anbieten, wie etwa im illuminierten Codex des Sachsenspiegels. Visuelle Elemente wie Tabellen und Diagramme eignen sich ferner, um naturwissenschaftliche, astronomische oder geographische Zusammenhänge verständlich zu machen, beispielsweise in Texten von Aristoteles oder Isidor von Sevilla.