In der psychiatrischen Klinik Münsterlingen liegen in einem Archivraum tausende von Zeichnungen, Bildern und Objekten, die im Lauf therapeutischer Prozesse entstanden sind. Die ältesten Arbeiten stammen noch aus der legendären Kreuzlinger Privatklinik Bellevue, die 1980 geschlossen wurde. In der Ausstellung „Kunst oder was?“ wird eine Auswahl aus dieser bis anhin noch nie gezeigten Bilderwelt vorgestellt, verbunden mit der Frage, wo die Grenze zwischen Kunstwerk und therapeutischem Material gezogen werden soll.
In Kunsttherapien wird die Gestaltung von Bildern oder Objekten zur Behandlung von psychischen Störungen eingesetzt. Je nach Diagnose gelangen verschiedene gestalterische Ausdrucksformen zum Einsatz. Während solchen Therapien können Dutzende, wenn nicht sogar Hunderte von Bildern entstehen. Was in der Alltagssprache gemeinhin „Kunsttherapie“ genannt wird, erweist sich bei näherem Hinsehen als ein breites Feld verschiedenster Möglichkeiten des Einsatzes bildnerischer Mittel in Therapien, das vom einfachen Malen und Zeichnen bis hin zur umfassenden Gestaltungstherapie mit Musik und Theater reicht - immer mit dem Ziel, Menschen zu helfen.
Auch im Kanton Thurgau kamen kunsttherapeutische Methoden früh zu Anwendung. Schon in der berühmten Sammlung Prinzhorn, die kurz nach dem 1. Weltkrieg zusammengestellt wurde, finden sich Beispiele bildnerischer Arbeiten von Patientinnen aus der legendären Kreuzlinger Privatklinik Bellevue der Familie Binswanger. Und im Archiv der psychiatrischen Klinik Münsterlingen liegen tausende von Zeichnungen, Bildern und Objekten, die seit den 1960er Jahren von der vielfältigen Therapiearbeit mit bildnerischen Mitteln zeugen.
Die Überlieferung der Materialien aus der Klinik Bellevue ist dem Einsatz des Kunsttherapeuten Silvio Lütscher zu verdanken, der die Bilder und Objekte vor der Stilllegung der Privatklinik aus der Mülltonne rettete. Auch viele der erhalten gebliebenen Konvolute im Archiv von Münsterlingen entstammen seiner Arbeit mit Patienten, die er immer wieder zu unkonventionellen gestalterischen Produktionen anregte.
Im Lauf der Jahre entstand so in Münsterlingen eine mehrere tausend Werke umfassende Sammlung von Arbeiten aus der Kunsttherapie, die heute als Grundlage für die Ausstellung von „Kunst oder was?“ dient. Bilder aus der Psychiatrie vermögen Aussenstehende oft zu faszinieren, weil in diesen unkonventionellen Bildfindungen oft besondere Ursprünglichkeit und Direktheit entdeckt wird. Der Künstler Jean Dubuffet radikalisierte diese Vorstellung mit der Prägung des Begriffs „art brut“ gar soweit, dass er meinte, dass nur in den psychiatrischen Kliniken überhaupt noch echte Kunst entstehen könne.
Allerdings ist längst nicht jedes Bild, das während einer Therapie entsteht, ein Kunstwerk. Die Ausstellung „Kunst oder was?“ erforscht die Beziehung zwischen Kunst und Therapie und fragt danach, ob die besondere Emotionalität, die Menschen in der Psychiatrie oft bestimmt, ausreicht, um aus einer Zeichnung ein Kunstwerk zu machen. Anhand einer Auswahl von Bildern und Objekten aus dem bis anhin noch nie gezeigten Archiv von Münsterlingen wird der Grenze zwischen Kunstwerk und therapeutischem Material nachgespürt. Zudem spiegelt die Ausstellung die Entwicklung der Kunsttherapie seit den Zeiten der Klinik Bellevue bis heute.
Die Ausstellung „Kunst oder was?“ ist Teil einer intensiven Auseinandersetzung des Kunstmuseums Thurgau mit Aussenseiterkunst. Ausgangspunkt dieses Tätigkeitsbereichs war nicht zuletzt der Nachlass des naiven Malers Adolf Dietrich, der als Autodidakt bis heute eine Ausnahmeerscheinung in der Schweizer Kunst geblieben ist. Werke weiterer namhafter Künstler wie André Bauchant, Josef Wittlich oder Hans Krüsi bilden heute eine einzigartige Sammlung, die das Museum europaweit als ein wichtiges Kompetenzzentrum für Aussenseiterkunst auszeichnet.