Als Carl Walter Liner (1914-1997) im Jahr 1947 nach Paris reiste, konnte er von Mai bis Dezember drei wegweisende Ausstellungen besuchen, die heute als erste Manifestationen der Lyrischen Abstraktion, des Tachismus oder der informellen Kunst gewertet werden: Wols in der Galerie Drouin, 2e Salon des Réalités Nouvelles im Palais des Beaux-Arts de la Ville de Paris und L’Imaginaire in der Galerie du Luxembourg. Die Stiftung Liner Appenzell, die bis zum 17. August den 100. Geburtstag Liners mit einer Ausstellung in der Kunsthalle Ziegelhütte würdigt, kann im Jubiläumsjahr das Schlüsselerlebnis des Künstlers, die Begegnung mit einer freien, radikalen anderen Kunst annäherungsweise visualisieren.
Aus Anlass des 100. Geburtstages von Wols (Wolfgang Schulze; 1913 –1951) wurde von dem Wols-Forscher Dr. Hans-Joachim Petersen in Kooperation mit dem Museum Wiesbaden 2013 eine Ausstellung konzipiert, die das Leben und das Werk des Künstlers nachzeichnet. Nach Stationen im Museum Wiesbaden und der Lyonel-Feininger-Galerie Quedlinburg kann das Museum Liner Appenzell mit der Wols – Das Grosse Mysterium die erste Einzelausstellung zu Wols in der Schweiz nach 1989 präsentieren. Das Museum Liner Appenzell, das in besonderem Masse der gestischen Abstraktion der Jahre nach 1945 verpflichtet ist, freut sich, mit dem Künstler Wols eine radikale und vielfältige Position der Nachkriegsmoderne in einer einmaligen Inszenierung würdigen zu können. Die Ausstellung, die in Appenzell in veränderter Form gezeigt wird, gibt mit einer Auswahl von über 100 ausgewählten Photographien, Druckgraphiken, Zeichnungen, Aquarellen und Gemälden einen Einblick in ein Œuvre, das solitär und zukunftweisend zugleich ist. Weitere Momente der komplexen Künstlerpersönlichkeit, die heute als Protagonist der informellen Kunst gilt, leuchten in den Buchillustrationen, den handschriftlichen Aphorismen und Briefen, einigen persönlichen Gegenständen wie dem Banjo, auf dem Wols musizierte, und den Notizen auf, die in der Ausstellung präsentiert werden können.
Mit den bedeutenden Leihgaben aus privatem und institutionellem Besitz aus Deutschland, der Schweiz und Italien wie auch in der Präsentation will die Ausstellung nicht nur die Lebensstationen des Künstlers Wols nachvollziehen, sondern seine noch immer existentiell und eruptiv wirkende Kreativität sinnlich und sinnenhaft vermitteln. Wols, der 1944 in einem Aphorismus formuliert hatte, dass es „jenseits aller persönlichen Lieben die grosse Liebe gibt, die keinen Namen hat,– das grosse Mysterium“, entwickelte über knapp zwei Jahrzehnte, von 1932 bis 1951, eine visuelle Sprache, die man als „Überblendung von abstrakter Malerei und Surrealismus“ bezeichnen kann, die aber, darin der Kunst Paul Klees verwandt, vor allem eine eigenwertige Poesie, einen schillernden Bilderkosmos, transportiert: „Das Abstrakte, das alles durchdringt, ist nicht fassbar“ (Wols, 1944).
Wols, im Grund ein Einzelgänger und dennoch äussert gut vernetzt, hatte trotz einem durch die Zeit bedingten nomadischen Leben die Kraft, nicht nur auf das künstlerische und intellektuelle Zeitgeschehen zu reagieren, sondern in seinem Gesamtwerk – von der Photographie bis zur Malerei, vom Aquarell bis zur Druckgraphik, von der Buchillustration bis zum Aphorismus – die geistigen Strömungen seiner Epoche zu transformieren, Kunst als „offenes System“ ins Werk zu setzen: ein System, das auf Leben, Natur und Wirklichkeit antwortet.