Der etwas irritierende und doch poetische Titel der Einzelausstellung des Schweizer Künstlers Luca Frei (*1976 in Lugano, lebt in Malmö) geht auf ein Zitat aus Gertrude Steins Roman Mrs. Reynolds zurück. Dort verarbeitet Gertrude Stein das Geschehen des zweiten Weltkriegs aus der Mikroperspektive eines Ehepaars. Während woanders der Krieg wütet, flüchten sich die Akteure in repetitive, banale und merkwürdig poetische Gesprächsrituale und zählen die Tage. Luca Frei versetzt den Besucher in seiner Ausstellung in einen ähnlichen zeitlosen Zustand. Seine Arbeiten zielen auf Leerstellen im politischen und gesellschaftlichen Zeitgeschehen und eröffnen dem Besucher symbolische Handlungsräume. Oft beinhalten die Arbeiten eine Aufforderung an das Publikum, sich als Akteure zu involvieren, ohne dass es klare Handlungsanweisungen gibt. Mit solchen Irritationen umkreist er grundlegende Fragen von Privatem und Öffentlichem, Unbewusstem und Bewusstem, aber auch Identität und Erinnerung. Dabei arbeitet er mit ganz unterschiedlichen Medien, darunter Zeichnung, Fotografie, Collage, Video und Installation. Der Künstler lädt zu einer mentalen Reise in Bildern, Assoziationen und eigenen Erfahrungen ein. Die Aufforderung, sich aktiv in die Ausstellung einzubringen regt letztlich auch zum Nachdenken über die eigene Rolle in der Gegenwart an.
Das Kunsthaus Glarus zeigt – nach der Präsentation im Museo Cantonale d’Arte in Lugano (2010), die zweite institutionelle Einzelausstellung des Künstlers in der Schweiz. In Kooperation mit dem Bonner Kunstverein entsteht eine Publikation.
Neben bestehenden Werken zeigt Luca Frei auch neue Arbeiten, die er eigens für die Räume im Kunsthaus Glarus entwickelt. Für den Oberlichtsaal etwa hat er eine neue raumfüllende Fotoarbeit mit dem Titel Inheritance (2013) erarbeitet, für die er auf das fotografische Archiv von Negativen seines ver-storbenen Vaters zurückgreift. Auf Kniehöhe zeigt er eine Serie abfotografierter Seiten aus den Sammelordnern, in denen sein Vater, ein Berufsfotograf, seine Negative archivierte. Wie ein Fries oder eine abstrakte Partitur ohne zeitliche oder geografische Verortung umfassen diese Bilder den Ausstellungsraum. Sie dienen als nicht identifizierbarer Fundus für die Auswahl der Abzüge, die Luca Frei darüber auf Augenhöhe zeigt. Dies sind Aufnahmen aus dem Alltag seines Heimatkantons, dem Tessin der 1970er und 80er Jahre. Passbilder, Innenräume, Sportveranstaltungen, Sichtbares und Verborgenes, Bewusstes und Unbewusstes, persönliche und kollektive Geschichte werden aus dem Archiv emporgehoben. Die Bilder treten so in einen Dialog mit dem Publikum, seinen Erinnerungen oder Erwartungen. Es entsteht ein Spannungsfeld zwischen dem anekdotischen Charakter des Lebens aus der Perspektive des Einzelnen und der scheinbaren Beliebigkeit der Momente, die aus dem Strom der Geschichte herausgehoben werden.
Für eine Wandarbeit im Seitenlichtsaal entwickelt Frei in Kooperation mit dem britischen Grafikdesigner Will Holder ein typographisches Vokabular zur Produktion einer Schrift. Sie dient ihm zur Niederschrift von Begriffen wie „Volk“, „Realismus“, „Technologie“, „Gewalt“, „Kritik“, „Geschmack“, „populär“, „Verhalten“ oder „Theorie“ auf der Wand. Diese Begriffe stammen aus dem Buch Keywords: A Vocabulary of Culture and Society von Raymond Williams aus dem Jahr 1976. Alle diese Begriffe sind zugleich vertraut und doch äusserst abstrakt. Frei macht die Abstraktion zudem sichtbar, indem er Plexiglas-Schablonen entwickelt, mit denen er die einzelnen Buchstaben zusammensetzt. Die Schablonen funktionieren einerseits für sich genommen als abstrakte Objekte und andererseits als Werkzeug für die Erzeugung sinnhafter Zeichen. Die Sprache und ihre Konventionen werden damit als Konstrukt für abstrakte Konzepte dekonstruiert und relativiert. Auf dem Boden im selben Raum liegt die Arbeit D-10785 (2010-12). Sie besteht aus einer flexiblen Verbindung von zahlreichen Holzstäben und Ketten in der Länge von 65 Metern. Die Ausstellungs-besucher sind aufgefordert, die räumliche Positionierung der Elemente zu verändern und dadurch immer neue Formen und Zeichen mit wechselnden und letztlich auch zufälligen Bedeutungen zu schaffen. Eine spielerische Unvoreingenommenheit und Offenheit für den Zufall prägen diese Arbeit. Sie bildet damit einen exemplarischen Gegensatz zum Umgang mit den kollektiv geprägten Begriffen an der Rückwand des Ausstellungsraumes.
Im Schneelisaal versperrt die Installation The Sun Twenty Four Hours (2011) den direkten Zugang zum Ausstellungsraum und fordert mit 60 mundgeblasenen Sanduhren auf Metallregalen Betrachter dazu auf, eigene Zeitspuren, wie etwa die Anwesenheitsdauer in der Ausstellung, zu hinterlassen. Ein Zufall verhalf der Arbeit zudem zu ihrem Titel: In Kartons befinden sich Seiten der italienischen Wirtschaftszeitung Il Sole 24 Ore, das ursprüngliche Verpackungsmaterial der Sanduhren. Zeit ist nicht nur individuelle Lebenszeit, sondern auch kollektiver Tauschgegenstand im ökonomischen System. Solche Fragen zum Spannungsverhältnis von individueller Bedeutung und kollektivem gesellschaftlichem Kontext ziehen sich als roter Faden durch die ganze Ausstellung. Nicht einzuordnen zwischen diesen beiden Polen ist der Faktor des Zufalls, der als dritte Komponente einen zentralen Referenzpunkt im künstlerischen Universum von Luca Frei bildet. Eine Videoarbeit auf mehreren Monitoren zeigt die zufällig entstehenden Spuren einer Tintenzeichnung, die der Künstler bei seiner Arbeit hinterlässt. Eine Serie von Glasarbeiten mit dem Titel Stitched (2012) entstand im Zerbrechen von Glasplatten mit zufälligen Bruchstellen. In der neuen Wiederverbindung mit der Technik der Blei-Glas-Malerei entstanden unterschiedliche abstrakte Zeichnungen entlang der Nähte. Die Wandzeichnung mit dem Titel The End of Summer (2010) zeichnet einen geschlossenen Kreis auf die Wand, in dessen Mitte eine Nylonschnur mit gekringeltem Ende und fehlendem Kohlestück befestigt ist. Die abgeschlossene, zeichnerische Geste überlässt dem Betrachter die Spekulation über deren Sinn und zeitlichen Entstehungsprozess. Ist sie etwa im Sinne des Titels als leicht nostalgische Geste des sommerlichen Zeitvertreibs zu verstehen? Die Antwort bleibt dem einzelnen Betrachter überlassen. So auch in den beiden neuen Arbeiten, den verschränkten Kreisen im Raum angeordneter Stühle und der fotografischen Serie von Rückansichten auf mit Schnüren für den Export verschlossenen Lastwagenplanen aus einem Firmenarchiv. Die Arbeiten kombinieren formale Strenge und augenzwinkernde Poesie. Antworten bieten sie jedoch nicht, stattdessen machen sie immer wieder die Orientierungslosigkeit und die Irritationen des Individuums in seiner Zeit erfahrbar.
In den vergangenen Jahren war Luca Frei international in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen vertreten, u.a. mit The Fifth Business im Bonner Kunstverein, (Solo, 2012), Aufruf zur Alternative, Kunstsammlung NRW, Düsseldorf (2011), The Moderna Exhibition 2010, Moderna Museet Stockholm (2010), All That Is Solid Melts Into Air, Museum van Hedendaagse Kunst, Antwerpen (2009), Audio, video, disco, Kunsthalle Zürich (2009). Er war u.a. 2009 Gewinner des Swiss Art Awards und 2005 Stipendiat von IASPIS.