Carl August Liner und Carl Walter Liner, Vater und Sohn, sind beim Publikum als Maler des Appenzellerlandes bekannt. Der akademisch ausgebildete Vater, Carl August Liner (1871 – 1946), gilt auch als herausragender Porträtist, während der Sohn, Carl Walter Liner (1914 – 1997), seine Position in der Kunstgeschichte in der Hauptsache aufgrund des abstrakt-gestischen Œuvres behauptet.
Kunsthistorisch und künstlerisch interessant sind die Arbeiten Carl August und Carl Walter Liners, weil sich in ihrem Werk, gerade in der Landschaftsdarstellung, die Kontinuität und die Brüche in der Kunst von 1890 bis 1960 spiegeln: die Entwicklung von einem akademischen Naturalismus über die spätimpressionistische Lichtmalerei und die existentiell aufgeladene, expressiv verdichtete Landschaftschiffre bis hin zur Auflösung oder Einbettung des Motivs in einem abstrakten Farb- und Formgewebe. Dabei gibt es keine klare Trennlinie zwischen den Zeichnungen, Gemälden, Aquarellen von Vater und Sohn – so wie der Vater ab den 1920er Jahren das Motiv immer weiter abstrahierte, so verdichtete der Sohn gelegentlich die autonomen Form- und Farbsetzungen wieder zu einem abbildhaften Sujet.
In gewisser Art und Weise sind die Werke der Künstler Ergebnisse eines fortgesetzten Dialogs, manchmal auch Streitgesprächs zweier Künstlergenerationen – wobei eine Besonderheit in der Tatsache zu finden ist, dass die „Generationen“ lange an einem Ort, dem so genannten Landhaus in Appenzell, Wohnhaus und Atelier zugleich, zusammenarbeiteten. Eine weitere Eigentümlichkeit ist, dass Carl Walter Liner seine künstlerische Ausbildung bei seinem Vater Carl August durchlief. Bereits im Alter von 16 Jahren knüpfte er folgerichtig an die Motive und Themen seines Ausbildners und Vorbildes an. Stilistisch bemühte sich Carl Walter Liner Mitte der 1930er Jahre um einen Anschluss an die expressiven wie auch neusachlichen Tendenzen seiner Epoche: eine Entwicklung, die der Vater in seinem Werk ebenfalls reflektierte. Man kann wohl davon ausgehen, dass manche der Werke, die in den Jahren der „Kooperation“ entstanden, tatsächlich auch Koproduktionen sind: eine Händescheidung ist heute aufgrund der Quellenlage kaum mehr möglich.
Nach dem Tod von Carl August Liner im Jahr 1946 und den Aufenthalten in Paris ab den späten 1940er Jahren kam Carl Walter Liner zu eigenständigen, seinem Temperament entsprechenden Bildformen, die nie die malerische Sprache des Vaters negieren, diese eher umformen und weiterführen.
Das Werk der beiden Liner ermöglicht in der Zusammenschau die Befragung einer linearen Kunstgeschichtsschreibung, die in Analogie zum technischen und zu einem postulierten gesellschaftlichen Fortschritt für die Moderne Kunst eine logische und notwendige Entwicklung von A nach B, vom Realismus über die Abstraktion zur Konkretion, konstruiert hat. Sowohl Carl August als auch ganz explizit Carl Walter Liner ignorierten in ihrer künstlerischen Praxis dieses kunsthistorische Modell, dessen Gültigkeit und ideengeschichtlichen Voraussetzungen – von heute aus gesehen – schon immer äusserst fragwürdig waren. Möglicherweise ist gerade der Stilpluralismus von Vater und Sohn Liner eines der Qualitätsmerkmale, das ihren Blick auf die Welt und auf die Kunst auszeichnet.
Die Ausstellung Carl August Liner und Carl Walter Liner – Vom Alpstein über Korsika bis zum Engadin gibt anhand des Motivs „Berglandschaft“ einen Einblick in die Appenzeller Künstlerwerkstatt, deren Wirken ein ganzes Jahrhundert – von 1890 bis 1990 – umfasst. Mit über 60 Werken aus der Sammlung der Stiftung und von privaten Leihgebern, wird gezeigt, dass die Künstler, die handwerklich in jeder zeitgenössischen Stillage malen und zeichnen konnten, ihr Formenvokabular immer wieder variierten, um den dargestellten Gegenstand – eben die Berglandschaft – möglichst facettenreich zu erfassen.
Ausgehend von der Appenzeller Gebirgslandschaft, die für die Liners Ruhepol, Prägung, Bezugspunkt und Bildanlass war, zeigt die Ausstellung, wie der Berg als farbige Form im Werk von Carl August und Carl Walter Liner zu einem Zeichen wird, das sich zwar auf eine faktische Landschaft bezieht, das aber weit über jede Wiedererkennbarkeit hinaus zum Anlass ästhetischer Reflexionen und zum Träger von emotionalen und existentiellen Sensationen wird. Berg- und Hügellandschaften in der Ostschweiz, im Engadin, in Umbrien und in der Toskana, in Algerien, in Korsika, in der Provence oder in Arizona erscheinen kaum als fotografisch genaue Spiegelungen der Topographie: Die in den Bildern aufgehobenen Landschaften sind Symbole einer grundsätzlichen, einer innigen, letztlich nicht an einen konkreten Ort gebundenen Liebe zur Natur – und zur Kunst, denn das Sujet bot für die beiden Liner die Möglichkeit, das stilistische Repertoire, das technische Können zu erproben, ohne Rücksicht auf Detailtreue oder die Ansprüche des Kunstmarkts – aber manchmal schon mit einem Seitenblick zum Auftraggeber oder zum Adressaten.
So finden sich lichtdurchflutete Impressionen neben abstrahierenden Kompositionen, zentralperspektivische Illusionen neben Landschaften, in denen Raum allein durch die Farbwerte suggeriert wird. Manche Werke sind einerseits unmittelbar vor dem Motiv entstandene Naturinterpretationen, andererseits können sie aber auch Zitate sein, die sich auf Formfindungen, Bildideen oder gar Landschaftserinnerungen entweder von Vater oder von Sohn Liner beziehen. Beide Künstler scheinen sich in ihren Bildern immer wieder die grundsätzliche Frage zu stellen: Was kann ein Landschaftsbild im 20. Jahrhundert noch sein oder leisten? Die bildgewordenen Antworten zeigt die Ausstellung August Liner und Carl Walter Liner – Vom Alpstein über Korsika bis zum Engadin.