Zu Beginn des 20. Jahrhunderts suchte die Avantgarde der bildenden Kunst nach neuen Quellen der Inspiration. Sie suchte ebenso nach neuen gestalterischen Ausdrucksformen. Für beides fand sie Anregungen in der Kunst von Aussenseitern, psychisch Kranken und Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung. Für die Kunst dieser Gruppen, die keinerlei Bezug zum übrigen Kunstbetrieb zu haben schien und nur ihren eigenen Gesetzen folgte, prägte der französische Künstler Jean Dubuffet den Begriff «Art Brut». Er verstand darunter eine ungeschönte, unakademische, unbeeinflusste, unmittelbare und ungehemmte Kunst.
Morgens um halb siebene, gleich anziehen, dann geht’s los schon wieder. Mit Arbeit. Muss ich den Tisch decken. Immer Lauftritt, kein Austritt.
Helmut Widmaier
In dieser Tradition sowie ihrer internationalen Akzeptanz als so genannte «Outsider Art» etablierte sich seit den 1970er Jahren des letzten Jahrhunderts eine eigenständige künstlerische Szene von Künstlern mit geistiger Behinderung. In zahlreichen «betreuten Ateliers», die seitdem in Europa entstanden, haben die Künstler nunmehr die Möglichkeit, ihre eigene bildnerische Sprache zu entfalten und sich ihrem Talent und ihren Fähigkeiten entsprechend als freischaffende Künstler zu verwirklichen. Während sich ihre Aktivitäten in Insiderkreisen zunehmend Geltung verschaffen, bleibt ihre breitere öffentliche Wahrnehmung bis heute weitgehend marginal.
Ihre besten Momente hat die Kunst, wenn sie vergisst, wie sie heisst.
Jean Dubuffet
Grund genug für das Sammlerehepaar Carmen und Reinhold Würth, das sich seit Jahren für die gesellschaftliche Integration von behinderten Menschen engagiert, den spannenden Dialog von Out- und Insider-Art aufzunehmen und ihm in ihrer Sammlung und in den Ausstellungshäusern des Unternehmens eine Plattform zu bieten. Immerhin kann die Sammlung Würth auf einen eigenständigen Sammelbereich zur Kunst von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung zurückgreifen. Dieser soll nun erstmalig im Forum Würth Chur in einer Auswahl präsentiert werden.
Um das anregende Verhältnis von In- und Outsider-Art zu verdeutlichen, werden darüber hinaus handverlesene Werke so genannter «arrivierter Künstler» der Sammlung Würth, wie etwa Corneille, Joan Miró, Arnulf Rainer oder Peter Pongratz, die Ausstellung ergänzen.
Der Kopf ist rund, damit die Gedanken ihre Richtung ändern können!
Francis Picabia
Die Ausstellung, das ist der Wunsch der Veranstalter, soll deutlich machen, dass die Öffnung für die Outsiderkunst nicht nur aus sozialen Aspekten überfällig, sondern auch unter künstlerischen Aspekten anregend ist. Schliesslich soll mit dem leider immer noch weit verbreiteten Gedanken, «dass es nur einigen wenigen Menschen vom Schicksal bestimmt ist, eine innere Welt zu haben, die es wert ist, ausgedrückt zu werden» (Lucienne Peiry) aufgeräumt werden.