Die Ausstellung «Das Dreieck der Liebe» bürstet Zürichs jüngere Kunstgeschichte gegen den Strich und wagt drei Thesen. Die erste: Zürichs Kunst hat Vorlieben für die Extrempositionen von Abstraktion und Körperlichkeit. Die zweite: Im Idealfall kulminieren diese Gegensätze in der dritten, vereinenden Kraft von Liebe und Mystik. Die dritte: Was für die Kunst gilt, könnte auch als Modell für die Mentalitätsgeschichte dieser Stadt gelten. Insofern ist dieses Porträt der Zürcher Kunst aus zwei extremen Perspektiven auch ein Porträt von Zürich als Stadt: zwischen kühler Kalkulation und heisser Ekstase. Die Ausstellung ist eine Hommage an diese Stadt und ihre Grösse, die sich gern im Versteckten zeigt.
Am Anfang steht kein anderer als Huldrych Zwingli, Zürichs Reformator. In einem öffentlich publizierten Brief kritisiert er die Darstellung von Heiligen in den Kirchen: Die Blicke der weiblichen Heiligen nennt er «hürisch», die der männlichen «kupplerisch». Zürich wählte dann immerhin eine andere als die brachiale, eine sehr mentalitätstypische Art, um dieses Problem zu lösen: Viele dieser Darstellungen wurden nicht zerstört, sondern verkauft – in den katholischen Kanton Schwyz.
In der lokalen, jüngeren Zürcher Kunstgeschichte verhält es sich ähnlich: Da traten die Konkreten an, um das unberechenbar Emotionale aus der Kunst zu eliminieren und es durch Rationalität zu ersetzen. Und lösten damit prompt eine Gegenbewegung aus. Nicht nur im berühmt-berüchtigten Friedrich Kuhn, der hier bewusst ausgelassen wird, sondern in einer ganzen Phalanx von Körperkünstlern und Körperkünstlerinnen, die gegen dieses kalkulatorische, strategische Zürich antrat.
Der Gegensatz ist bis heute nicht gelöst – und manifestierte sich auch politisch, mit spannungsgeladenen Auswirkungen bis in die Gegenwart. Dem grauen, ökonomisch-berechnenden Zürich steht eine bunte, exzessiv-überbordende Stadt gegenüber. An Entspanntheit und Gelassenheit, könnten böse Zungen behaupten, fehlt es beiden Seiten. Und so offen und extravertiert sich Zürich manchmal zeigt, so gegenwärtig ist hier das Verdrängte, Verheimlichte, Verklemmte noch immer. Gestautheit und Ausbruch sind immer noch typisch Zürich. Diesem Gegensatz spürt die Ausstellung im Helmhaus in der Kunst nach, von 1950 bis heute, mit Arbeiten von 36 Künstlerinnen und Künstlern. Sie zeigt Werke, die extrem auf der einen – körperlichen – und extrem auf der anderen – abstrakten – Seite stehen. Sie sieht abstrakte Kunst durch eine «körperliche» Brille. Und analysiert die Struktur von körperlicher Kunst: entdeckt Abstraktion in Wiederholungen und Überhöhungen von Körperlichem.
Die ausgesprochene Autorenausstellung, deren Idee und Umsetzung wir dem Zürcher Kulturanthropologen und Kunstforscher Michael Hiltbrunner verdanken, kulminiert in der These, dass dieser Widerspruch, der Zürichs Kunst und Zürichs Mentalität eigen ist, im besten Fall versöhnt wird. Ein monochromes Bild – vom Zürcher Maler Rudolf de Crignis – ist genauso abstrakt wie körperlich: in einem. Eine performative Fotoarbeit von Manon – «Wendekreise» – ist genauso von physischem wie theoretischem Interesse. Nun könnte man in diesem Vereinen der Gegensätze so etwas wie Liebe, wie Mystik sehen: ein dritter (Aus)-Weg aus einem Dilemma. Und schliesslich in dem, was die Kunst vormacht, ein Beispiel für gesellschaftspolitische Dimensionen entdecken.
Dem Aufspannen von Körperlichkeit und Abstraktion vor dem Hintergrund der Liebe liegt die Idee zugrunde, dass Körperlichkeit und Abstraktion nicht zu trennen sind, so wie die Pythagoreer für alle Erscheinungen auch eine Zahl zu bestimmen suchten. Die Zahl 3 ist Symbol für Ende, Mitte und Anfang, und somit für das All. Dieses All, das Unendliche in der Mathematik, steht oft für das Göttliche und ist zentraler Gegenstand der Mystik. Dies liegt der Konzeption der Ausstellung zugrunde: das Dreieck nicht als Form, sondern als Spannungsverhältnis zwischen Körperlichkeit, Abstraktion und dem dritten, kaum fassbaren kosmisch-unendlichen Element.
Die Arbeiten in der Ausstellung lassen das Spektakuläre und das Plakative aus, sie sind persönlich, intim, subjektiv, individuell. Sie zeugen von der Diversität der Ideen und dem Pluralismus der Lebensentwürfe. Sie zeigen Emotionalität, Geist und doch auch Körperlichkeit, sie sind zerbrechlich und doch sehr klar. Aktuelle und historische Positionen kommen zusammen, Künstlerinnen, Künstler und Künstler_innen aus verschiedenen Generationen und mit unterschiedlichen sexuellen Ausrichtungen. Die Diversität der Beiträge offenbart die Verbindungen und Vernetzungen einer geheimnisvollen und ambivalenten Auseinandersetzung mit dem Menschsein.
Der Blick auf die Kunst lebt hier von einer Umkehrung, erlebt eine Drehung: Die oft rational verstandenen Arbeiten der konstruktiven Kunst von Verena Loewensberg oder Richard Paul Lohse, der konkreten Kunst von Max Bill oder Mary Vieira oder die neo-minimalistischen Objekte von Christoph Haerle werden als sinnliche, poetische, gar erotische Werke gewürdigt. Die Akte von Walter Pfeiffer und Peter Phillips, die Sexfotos von Eva Kurz und André Gelpke, die Tonreliefs von Sabian Baumann: Sie regen uns zum Nachdenken an über die Rolle des Körperlichen in der Gesellschaft, über Zensur, über verdrängtes Begehren, aber auch über Libertinage und Schamlosigkeit. In den Mal-Performances von Cristina Fessler kamen ihre Körperlichkeit und deren Abstraktion zusammen, in der 16-mm-Filminstallation von Kerstin Schroedinger werden Körper als Umrisse sichtbar und zu einer minimalistischen «Fuge» gefügt.
Bedeutend ist auch die historische Dimension, mit einer Recherche zum Kunstheft The Cthulhu News von Robert A. Fischer um 1966, zur grafischen Gestaltung von Alice Juliana Lang in den 1970er-Jahren für Frauen- und Lesbenemanzipation in Zürich oder zur Performancekunst an der Kunstschule F+F. Diese Beispiele zeigen, wie prekär das Verhandeln von Körperlichkeit war und welche Strategien Anwendung fanden, um nicht akzeptierte, unheimliche und nicht bekannte Aspekte der Körperlichkeit zu thematisieren.
Zu Sexarbeit und Sexualitätspolitik der Stadt Zürich aus genderkritischer Perspektive recherchieren die jungen Künstlerinnen Martina Baldinger, Alessia Conidi und Angela Wittwer: auch über die Arbeit von Ellen Cantor in der zensierten Ausstellung im Helmhaus von 1995. Eine Edition von Provence enthüllt individuelle Vorlieben von Freiern – auf Karteikarten registriert von Grisélidis Réal, der Genfer Hure und Vorreiterin der Prostituierten-Emanzipation, die zuvor in Zürich an der Kunstgewerbeschule studiert hatte. Die Grafiken von Johannes Gachnang beleuchten Mystisches und Überdimensionales, und Tobias Madison deckt in seinen neuen Arbeiten unheimliche und exhibitionistische Aspekte der Psyche auf. Der Zürich-Bezug ist oft überraschend: Der britische Maler Peter Phillips hat immer wieder hier gelebt, die brasilianische Bildhauerin Mary Vieira mit Max Bill zusammen gearbeitet, und der internationale Kurator und Berner Verleger Johannes Gachnang stammte ursprünglich aus Zürich.
Jede ausgestellte Position vertritt natürlich eine bestimmte Haltung, keine dieser Haltungen soll aber eine Mehrheit machen, sondern jede ist exemplarisch und in dem Sinn ex-zentrisch. Auch zeigt sich hoffentlich, dass Stereotypen gebrochen werden oder dass sich vermeintliche Stereotypen als besondere und einzigartige Haltung entpuppen – dass Vorbehalte, ja Vorurteile von sich gegenüberstehenden Kunstrichtungen von der Kunstgeschichte geschlichtet, umgedeutet, neu gelesen werden.
Wir sind eingeladen, bei den ausgestellten Arbeiten und Recherchen mentale und emotionale Verbindungen zu imaginieren. Die Imagination ist für die Linguistin und Philosophin Julia Kristeva der eigentliche Ausweg aus der aktuellen Krise der Liebe: einer Liebe, die ihre Konventionen verliert, bei der wir nicht mehr wissen, ob wir von Mutterliebe, Nächstenliebe oder Leidenschaft sprechen, die als Selbsterlebte und Unmittelbare flüchtiger scheint als die aufreizenden Körper, die uns medial vermittelt werden, die im besten Fall unauflösbar erscheint, als ein «Bizarre Love Triangle», wie der Pop-Hit von New Order heisst. Und so, wie auch Denis de Rougemont schon mehr als nur ahnte, hinterlässt die Liebe ein Brennen und ist eigentlich doch eine «unmögliche menschliche Leidenschaft».