»gute aussichten 2012/2013« bietet auch in diesem Jahr eine einzigartige und stilistisch breit gefächerte Zusammenschau dessen, was in den letzten zwölf Monaten an junger Fotografie in Deutschland entstanden ist. Die einzelnen Bildserien von Deutschlands bedeutendstem Wettbewerb für Absolventen im Bereich Fotografie werden im Haus der Photographie der Deichtorhallen Hamburg als Abschluss der Tournee vom 23. Januar bis 3. März 2013 zu sehen sein. Sie zeichnen sich durch sehr unterschiedliche ästhestische, formale und konzeptionelle Ansätze aus und gewähren einen Einblick in jene vielfältigen fotografischen Themen, mit denen sich junge Künstler heute auseinandersetzen.
Mit einer Rekordbeteiligung von diesmal 108 Teilnehmern hat sich »gute aussichten« mittlerweile zu einem der wichtigsten Nachwuchspreise für zeitgenössische Fotokunst etabliert. Das erfolgreiche Projekt bietet herausragenden Absolventen des Fotografiestudiums einen Rahmen, um ihre Arbeiten einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. Die Auswahl deutscher NachwuchsfotografInnen eröffnet einen Blick auf aktuelle Entwicklungen und neue Tendenzen, die bis zu installativen Formen reichen.
An der Jurysitzung für in Hamburg nahmen in diesem Jahr teil: die ehemalige Leiterin der Kunstsammlung der DZ Bank, Luminita Sabau (Frankfurt/M.), Josefine Raab (Neustadt/Weinstrasse), Kunstwissenschaftlerin und Gründerin von »gute aussichten«, Dr. Ludger Derenthal, Leiter des Museums für Fotografie (Berlin), Mario Lombardo, Art Director, Bureau Lombardo (Berlin), der Fotograf und Künstler Thomas Struth (Berlin/Düsseldorf) sowie Ingo Taubhorn, Kurator am Haus der Photographie, Deichtorhallen (Hamburg).
Die PreisträgerInnen:
Henning Bode // Die Kinder des King Cotton // Fachhochschule Hannover
King Cotton steht als Synonym für die vom Baumwollanbau geprägten Südstaaten Amerikas vor dem Bürgerkrieg (1861-1865). Viele der knapp drei Millionen Einwohner des Bundesstaates Mississippi leben heute auf der untersten Stufe der sozialen Leiter im Hinblick auf Bildung, Einkommen oder Gesundheitsversorgung. Henning Bode hat das nach wie vor ländlich geprägte Delta des Mississippi mehrere Wochen bereist, um den Menschen dort zu begegnen und etwas über ihr Leben, ihre Kultur und ihr Wesen zu erfahren. Das Kondensat seiner eindringlichen Aufnahmen ist ein Mix aus Stolz und Humor, aus Rhythmus und Lebensfreude, aus Armut und Perspektivlosigkeit, aus Überlebenswillen und Gastfreundschaft umhaucht von den Melodien des Delta Blues.
Susann Dietrich // Das Singen der Perlmutt-Zirpe // Hochschule für Bildende Künste Braunschweig
Sammeln, aufbewahren, erinnern, transformieren, präsentieren sind die theoretischen Eckpfeiler in Susann Dietrichs künstlerischem Wirken. Rasch entsteht der Eindruck eines nicht abreissenden Stroms, der über Jahre hinweg Materialien unterschiedlichster Form und Provenienz aufnimmt und mit sich trägt, um sie irgendwann in umgebildeter Form wieder zutage treten zu lassen. Was Susann Dietrich findet, durchwandert mit ihr und durch sie einen Verwandlungsprozess, bei dem Begriffe wie "Auflösung des Motivs, Verdichtung von Strukturen, lichte Farbigkeit, Transparenz, Bewegung, Verschiebung, Wiederholung und Überlagerung" (zit. nach: Susann Dietrich) eine wichtige Rolle spielen. Dabei entstehen Fotografien, Objekte, Zeichnungen oder Radierungen, in denen die Fundstücke in verdichteter, verwandelter Form ein neues, von einer sehr eigenen Poesie durchdrungenes Leben beginnen.
Saskia Groneberg // Büropflanze // Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart
Ob gepflegt und gehegt oder struppig und sich selbst überlassen, in jedem Fall ist die Büropflanze der anarchistische Gegenpol zu einer Arbeitswelt, die uns ihren eigenen Rhythmus und ihre eigenen Regeln aufzwingt. Kein Chef der Welt wird es wohl wagen, gegen die „persönliche“ Grün-Ausstattung von Räumen und Tischen seiner Angestellten vorzugehen, denn dieses wäre ein Sakrileg. Manifestiert sich in der Büropflanze doch gleich Zweierlei: erstens offenbart sich in ihr etwas über das Wesen dessen, der sich um sie kümmert und ist zweitens neben der Kaffeetasse und vielleicht dem Bild von Kind und Gatte die einzige individuelle Bastion in einer funktional gestalteten Umgebung. Die Topfpflanze als Inkarnation der Freiheit. Als Synonym jener Welt, die mit dem Betreten des Büros gleichermassen mit der Garderobe bis zum Abend an den Ständer gehängt wird.
Svetlana Mychkine // Zuckerblau // Fachhochschule Dortmund
Waisenhäuser sind vermutlich nirgendwo auf der Welt besonders freundliche Orte. Aufbewahrungsstätten dieser Art verströmen zumeist einen traurigen Mix aus Funktionalität, zwanghafter Ordnung, (notwendiger) Disziplin und einem täglichen Regelwerk, das an der Schnittstelle zwischen staatlicher Einrichtung und Fürsorgepflicht sowie den Bedürfnissen des Individuums entlang errichtet wird. Swetlana Mychkine hat verschiedene Waisenhäuser in Russland aufgesucht. Ihre Serie "Zuckerblau" gewährt Einblicke in eine Lebenswelt, die nach wie vor vom Geist des ehemaligen real existierenden Sozialismus der UdSSR durchdrungen ist. In der Gestaltung des Lebensraumes schlug sich die sozialistisch-kommunistische Weltanschauung in einer strikt funktional ausgerichteten, schnörkellosen Architektur nieder. So blicken wir in Schlaf- oder Speisesäle, in denen die Ausstattung nicht die geringste persönliche Spur aufweist. Studien zufolge leiden Waisenkinder, die in einem kollektivistisch geprägten Umfeld aufwachsen, besonders unter Einsamkeit und Isolation. Der Blick in die Gesichter der Kinder spricht Bände...
Nicolai Rapp // Dead White Men's Clothes // Fachhochschule Bielefeld
Sechs prall gefüllte Ballen auf weissem Grund: Nicolai Rapps Bildstrategie erinnert auf den ersten Blick an eine zeitgenössische Liaison zwischen minimalistischer Skulptur und konzeptueller Fotografie. Ausgangspunkt der Serie ist das "Verhüllen", so die Worte des Fotografen. Das Verhüllte erregt stets unsere (voyeuristische) Neugier, gibt es doch seinen Kern nicht willenlos preis. Während wir das Sichtbare zu (er)kennen glauben und unser Blick oft achtlos darüber hinweg gleitet, bleibt er unwillkürlich an jenem hängen, das sich der Wahrnehmung in einem anderen Gewand als dem Offensichtlichen präsentiert. So vermögen wir in den zusammengeschnürten Ballen auf den zweiten oder dritten Blick Bekanntes zu identifizieren, der Kontext jedoch bleibt im Ungewissen. Als entfernte Lesehilfe mag das grosse Banner dienen, das ein mit textilen Bahnen abgehängtes Gebäude zeigt – die könnten eine mögliche Zweit- oder Drittverwertung jener Textilien sein, die in Ballen gepresst von Europa aus den Weg nach Afrika finden.
Fabian Rook // Desktop Evidence // Muthesius Kunsthochschule Kiel
Fabian Rook zeigt drei unterschiedliche Bildserien – seine "Reise" führte ihn nach Mexiko und Japan und endet in einer dritten, fiktiven Dokumentation in den Krisengebieten des Nahen Ostens. Erst bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass es sich nicht um Abbildungen handelt, die der Kamera des Fotografen während einer wirklichen Reise entsprungen sind. Fabian Rook hat vielmehr die Bildwelt von Google Streetview unter die Lupe genommen und von den Orten seiner Wahl Screenshots angefertigt. Durch entsprechende Bearbeitung und Zusammenstellung lässt er eine Ästhetik entstehen, die an spezifische Bildstrategien von amerikanischen Fotografen wie Joel Sternfed und Stephen Shore anknüpft. Indem er dabei auf die automatisiert hergestellten Landschaftsaufnahmen von Google Streetview zurückgreift, also selbst weder als Bildautor noch als unmittelbarer Augenzeuge in Erscheinung tritt, thematisiert Rook die Bedeutung von Autor- und Zeugenschaft fotografischer Bilder.
Jakob Weber // In Gegenwart // HAWK Hildesheim
Wo waren Sie gerade als in New York die Türme des Worldtrade Centers zusammenbrachen? Auf diesen, zunächst einfach erscheinenden Nenner liesse sich die Werkreihe "In Gegenwart" von Jakob Weber herunterbrechen. Was die Angelegenheit deutlich komplizierter macht, ist die Frage nach der Wahrnehmung und der mehrfachen Überlagerung verschiedener Realitätsebenen. Während einerseits das individuelle Erleben in erster Line geprägt ist, durch das, was wir unmittelbar am eigenen Leib erfahren, werden wir andererseits umspült von Nachrichten jeder Art, die auf diversen medialen Kanälen unablässig in unser tägliches Leben sickern. Welche Nachricht hat welche Bedeutung für welches Individuum in welchem Kontext und welche mittelbare oder unmittelbare Auswirkung bedeutet dies auf mein persönliches Leben – so lautet die wesentlich komplexere Fragestellung, die hinter Jakob Webers Arbeit aufscheint.