Zu Interventionen im Christian Daniel Rauch-Museum werden zeitgenössische Künstler verschiedener Kunstgattungen eingeladen. Im Jahr 2012 begann die Reihe mit dem Bilderhauerpaar Julia Venske und Gregor Spänle. Ihre eigenwillig bizarren Skulpturen aus weißem Marmor eröffneten neue Einsichten zu den im Museum präsentierten Werken des Bildhauers Christian Daniel Rauch und anderer Bildhauer des Klassizismus. Wie Besucher bevölkerten ihre Figuren das Museum. Die fremden Wesen sind biomorphe Gebilde, die sich ihre Umgebung erforschend flach ausbreiten oder sich neugierig in die Höhe recken. Manche präsentieren alltägliche Gegenstände, die sich auch inhaltlich mit Persönlichkeiten der Goethezeit und ihrem Wirken beschäftigen. Die Ironie ist ein wesentliches Merkmal der Skulpturenwelt von Venske & Spänle.
Die Prämisse des Gewinns von Erkenntnissen und der Erweiterung ästhetischer Erfahrungen ist auch der Intervention "Lichtgestalten" des Künstlers Ingolf Timpner zu eigen. Eine Intervention in der bildenden Kunst ist ihrer Absicht und ihrer öffentlichen Wahrnehmung nach ein Eingriff in bestehende Zusammenhänge.
Ingolf Timpner lebt und arbeitet in Düsseldorf. In seinen Fotoarbeiten faszinieren ihn Inszenierung und Zitat. Surreale Momente können dabei entstehen. Immer wieder finden sich Rückbezüge auf die Geschichte der bildenden Kunst. Seine fotografischen Inszenierungen sind irritierend. Sie durchkreuzen die vorgegebene Ordnung durch das Hinzufügen eines Details aus einem anderen und unerwarteten Zusammenhang.
Ingolf Timpner wählt aus den ausgestellten bildhauerischen Werken zwölf Porträtbüsten als Modelle aus. Die klassizistische Büste ist unbekleidet oder das Bruststück mit Draperien in antiker Manier verhüllt. Dieser Idee folgt Timpner, indem er die Modelle bekleidet. Auf den Fotografien lassen sich nur vereinzelt Kleidungsstücke konkret bestimmen. Das bleibt bewusst ungeklärt. Pelze und verschiedene Textilien mit unterschiedlichen stofflichen Texturen werden verwendet, wie z. B. gewalkte Wolle, Organza, Baumwolle, Leinen oder Camouflageeffekte.
Die Fotoarbeiten, aufgenommen im Analogverfahren mit Kameras aus den 1950er und 1960er Jahren, belichtet Timpner in Schwarzweiß stets im Format 51 x 51 cm auf Barytpapier. Barytpapier ist das klassische Fotopapier, das bis etwa in die 1970er Jahre zur fotografischen Ausarbeitung überwiegend verwendet wurde. Das kräftige Papier mit der Silbergelantineschicht vermittelt einen haptischen Eindruck und weist eine warme Tonalität auf, was an die Tradition historischer Meisterfotografien anschließt. Bewusst spart Timpner beim Auftrag der Entwicklerflüssigkeit die Ränder aus, sodass diese wolkig ausfransen und die Arbeiten eine malerische Qualität erhalten. Die Fotografien werden nicht plan gepresst, so dass ein zartes Relief entsteht. Die Motive, in einer Auflage von drei Exemplaren einzeln ausgeführt, unterscheiden sich durch diese Ausarbeitung. Die Fotoarbeiten werden dadurch zu Unikaten.
Bei der Platzierung der zwölf Fotografien in der Skulpturenwelt der Goethezeit im Christian Daniel Rauch-Museum wurde bewusst auf eine direkte Gegenüberstellung von fotografischer Arbeit und Bildnisbüste verzichtet. Nicht die Idee des unmittelbaren Vergleichs steht im Vordergrund, vielmehr werden inhaltliche Bezüge aufgegriffen - z. B. verwandtschaftliche Verhältnisse wie bei Großfürstin Alexandra von Russland und ihrem Sohn Alexander, freundschaftliche wie bei Christian Daniel Rauch und Alexander von Humboldt - oder kollegiale, vorbildhafte, dynastische, würdigende, ästhetische.
In seinen Arbeiten geht Ingolf Timpner der Frage nach dem Spiegelverhältnis, das zwischen Bild und Leben besteht, nach. Er bietet den Betrachtern, die sich auf die "Lichtgestalten" einlassen, eine Sehschule an: Das klassizistische Porträt wird Teil unserer Gegenwart.
"Produktive Irritation ist als eine künstlerische Methodik zu erachten, die nicht anders als die Aphorismen der Aufklärungszeit auf heitere oder leichte Weise irritierend einwirkt auf das Wahrnehmen, Denken und Empfinden der Betrachter oder der Leser. Entscheidend ist immer, dass das Altvertraute auf neue Weise gesehen wird. Entscheidend ist aber nicht, ob etwas zeitlos ist, sondern ob es uns zum eigenen Denken, zur eigenen Ansicht und Anschauung, zum Weiterdenken anregt. Timpner inszeniert. Er spielt. Das tut der Wahrnehmung gut. Nichts geht über die produktive Irritation, nicht über die aufgestörte Gewohnheit. In dieser Blickverstörung liegt eine herausfordernde Chance."