08.10.2011 - 06.12.2011
"Worum es geht, ist, in die Fiktion Amerikas einzusteigen, in Amerika als Fiktion. Als solche beherrscht es ja die Welt." Jean Baudrillard
Auf den Straßen von Los Angeles. Razzien und Verhaftungen. Unfälle und Verletzte. Glamour und Obdachlose. Alltag in der Metropole. Wie ein Jäger durchstreift Mirko Martin die urbane Landschaft und dokumentiert Ereignisse des tagtäglichen Lebens. Nur wieso läuft ein brennender Mann auf der Straße? Wo sind allÂ’ die Beteiligten eines Autounfalls? Wieso liegen Menschen in Gruppen mitten auf dem Gehweg? Und weshalb widmen die Passanten den Katastrophen keine Aufmerksamkeit? In seinen Fotografien tauchen stets Absurditäten, Spektakel und unerklärliche Situationen auf, die von alltäglichen Erfahrungen und Gewohnheiten völlig abweichen. Sind die Motive noch real oder doch schon inszeniert? Mirko Martin spielt mit Voyeurismus und Erwartungen, denn in seinen Fotografien prallen Dokumentation und Inszenierung aufeinander. So erscheint die Realität in seinen Fotografien ebenso theatralisch wie die dramatisch ausgeleuchteten Filmsets Hollywoods. Alles in den Bildern wird zur Bühne. In dieser spannungsreichen Uneindeutigkeit werden Realität und Fiktion gegeneinander ausgespielt - die Imagination des Betrachters wird herausgefordert.
Die Momente der Irritation entstehen dadurch, dass Mirko Martin in seiner Serie "Out of a clear blue sky" authentische Straßenaufnahmen mit Motiven von Filmdrehs samt kostümierten Schauspielern und inszenierten Katastrophen im öffentlichen Raum mischt. Kein Einzelbild trägt einen Titel, hinsichtlich der Entstehung gibt es keine Zuschreibung. So bleibt stets offen, was authentisch und was konstruiert ist. Dieses konkrete Konzept der passiven Inszenierung setzt er in seinen Fotografien sachlich und unaufgeregt um, trotz der teilweise spektakulären Sujets. Diese adäquate Bildsprache mit weiten Perspektiven und Totalen entspricht denen von Überwachungs- und TV-Kameras und verweist so auf die ständige Präsenz der Massenmedien in Los Angeles und über die Stadt hinaus - eine Welt, die permanent dokumentiert und simuliert wird. Diese ständige mediale Erfahrung überlagert unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit. Mit ihrem ambivalenten Verhältnis zur Abbildung der Wirklichkeit weisen die Fotografien von Mirko Martin darauf hin, dass Realität und Fiktion keine sich ausschließenden Begriffe sind. Will man den Bildern - und der Fotografie als Medium des Authentischen - rundum Glauben schenken, kommt es unvermeidlich zu Irritationen.
In Praxis und Motivation steht Mirko Martin in der Tradition der klassischen Street Photography. Vorwiegend hat er in Skid Row fotografiert, ein Stadtteil von Los Angeles mit einer der höchsten Konzentration von Obdachlosen in den USA. Da er jedoch auch die Filmindustrie als Bildquelle nutzt, gibt es, auch ästhetisch, offensichtlich Referenzen zur inszenierten Fotografie - wenngleich er nicht selbst inszeniert. Die Pioniere der Street Photography waren darauf bedacht, den Anschein von Unmittelbarkeit zu wahren und den Fokus auf einen einzigen außergewöhnlichen Moment zu setzen. Im Vergleich dazu entsprechen Mirko Martins großformatige Fotografien eher einem Bildkonzept der Malerei. Sie sind in ihrer Komposition nicht auf ein einziges Bildereignis fixiert, sondern betonen die Gleichzeitigkeit vieler. Der Bildaufbau steht im Dienste einer harmonischen, in sich geschlossenen Komposition und erweckt kaum mehr den Eindruck einer dokumentarischen Aufnahme. So scheinen auch die Menschen mitunter bewusst vor seiner Kamera zu posieren. Die fotografischen Tableaus werden in der seriellen Präsentation mit kleinformatigen, der Schnappschuss-Ästhetik entsprechenden Momentaufnahmen kombiniert. Sie scheinen den Wahrheitsgehalt der komplex angelegten und daher eher inszeniert wirkenden Panoramen zu bezeugen.
Mirko Martin, geboren 1976 in Sigmaringen, absolvierte 1999 bis 2001 eine Ausbildung zum foto- und medientechnischen Assistenten in Freiburg. Im Anschluss studierte er freie Kunst an der HBK Braunschweig bei Friedemann von Stockhausen, Johannes Brus, Dörte Eißfeldt und Birgit Hein. Nach seinem Diplom 2007 schloss er die Meisterklasse bei Michael Brynntrup ab. Von 2005 bis 2006 studierte er am California Institute of the Arts, Los Angeles und hat Stipendien vom DAAD und von der Fulbright-Kommission sowie zahlreiche Auszeichnungen erhalten, unter anderem den Prix Voies Off des Rencontres dÂ’Arles und den 1. Preis, Aenne-Biermann-Preis für deutsche Gegenwartsfotografie. Seine Arbeiten wurden unter anderem in den Kunstwerken, Berlin, im Haus der Kunststiftung Baden-Württemberg, Stuttgart, Kunstverein Hannover, Centre PasquArt, Biel, Fotomuseum Rotterdam, und MACRO Rom gezeigt. Mirko Martin lebt und arbeitet in Berlin.
Melanie Martin, geboren 1980, studierte bis 2008 Kunst- und Medienwissenschaften in Braunschweig und Wien. Während des Studiums kuratierte sie eigene Ausstellungsprojekte und verfasste Katalogbeiträge, u.a. in Zusammenarbeit mit Maria Sewcz und Candice Breitz. Von 2009 bis 2011 arbeitete sie als wissenschaftliche Volontärin in der Deutschen Kinemathek - Museum für Film und Fernsehen in Berlin. Hier war sie beteiligt an der Publikation "Fritz Langs Metropolis" (2010) sowie der Ausstellung "Zwischen Film und Kunst - Storyboards von Hitchcock bis Spielberg" (2011). Melanie Martin lebt in Berlin.
Nachwuchs fördern und ihm eine erste Chance für die Zukunft geben - Talents ist kreativer Campus für junge internationale Gegenwartsfotografie und Kunstkritik. Seit 2006 fördert der C/OÂ’s e.V. mit dieser Ausstellungsreihe angehende Fotografen und Kritiker, die sich an der Schwelle zwischen Ausbildung und Beruf befinden. Begleitet wird jede Einzelausstellung von einer Publikation, in der Bild und Text einen Dialog eingehen. Talents ist ein internationaler Wettbewerb, der jährlich ausgeschrieben wird. Aus den eingereichten Bewerbungen wählt eine Fachjury jeweils vier Fotografen für einen Jahrgang aus. Mit Hilfe starker Partnerschaften schickt C/O Berlin die Fotografen und Kunsthistoriker in die Welt. Dieses in Europa einzigartige Programm ist für viele junge Künstler der Ausgangspunkt für Ausstellungen, z.B. in den Goethe-Instituten Stockholm, New York oder Santiago de Chile.