06.08.2011 - 04.10.2011
Großzüg geschnittene Zimmer, Anhäufung von Kunstgegenständen, biedermeierliches Mobiliar - die Arbeit von Anne Schumann gibt einen detailreichen Einblick in private Räume und längst vergangene Zeiten. Das sorgsam komponierte Interieur wirkt vertraut, Geruch und Haptik bekannt. Jedoch sind die Bilder menschenleer. Auf keinem der Fotografien sind die Bewohner dieser Villa in persona sichtbar. Wer hat hier gelebt? Welchen Interessen sind die Menschen hier nachgegangen? Wie sah ihr Alltag aus? Ist das tatsächlich das familiäre Umfeld von Anne Schumann oder Inszenierung und Fiktion? Von Kleinigkeiten und Arrangements ausgehend versucht der Betrachter den technischen und handwerklichen Standard, Komfort, Stil, gesellschaftliche Stellung und Geschmack abzulesen und zu dekodieren – ohne Erfolg. Eine objektive Verortung und Einordnung läuft ins Leere, denn Anne Schumann hat gefundene, historisch zusammenhanglose Aufnahmen neu arrangiert und spielt so mit Erwartungen und Vorstellungen. Die Bilder werden zur Folie für die Welt des Betrachters. Für das, was er selbst einbringt und hineinliest. Erst durch seine subjektiven Vorstellungen und persönlichen Vorerfahrungen werden die Fotografien beseelt.
Wohl kalkuliert ist die Präsentationsform der Bilder als Film. Projiziert auf drei Screens zeigt die Bildabfolge die Raumaufnahmen des Ausgangsmaterials sowohl in der Totalen als auch in Ausschnitten. Ist jedoch diese filmische Reproduktion zweidimensionaler Fotos nicht redundant? Gerade durch die gezielte Kombination der Bilder, Detailvergrößerungen und Kameraschwenks über die fotografische Oberfläche lenkt Anne Schumann den Betrachter. So wird die vermeintlich freie Assoziationskette des Betrachters mit dem jeweiligen Bild gesteuert. Er kann sich nicht wie beim Betrachten eines Gemäldes oder Albums frei auf die einzelnen Elemente einlassen, sie miteinander in Verbindung setzen und somit allmählich das Bild dechiffrieren. Statt ein Bild in einem selbst gewählten Zeitfenster erfahren zu können, gibt die Fotografin nicht nur den Blickwinkel und den Ausschnitt, sondern auch die Zeitspanne der Betrachtung des Einzelbildes durch den Filmschnitt vor.
Durch die Konzentration auf eine einzige Erzählstruktur und die Beschränkung der Information erweckt Anne Schumann umso mehr Interesse. Ihr Bildervorrat reicht zwar aus um neugierig zu machen, verwährt sich jedoch gegenüber Vollständigkeitsansprüchen. Die Verbindung der einzelnen Bilder bleibt in der Schwebe, schwirren wie Erinnerungsfetzen durcheinander und fügen sich nicht zu einem schlüssigen Gesamtbild. Der Rezipient versucht, die Leerstellen der Bilderfolge mit eigenen Bildern zu füllen, um ein geschlossenes Ganzes zu erhalten. Damit greift er jedoch ebenso verändernd in Anne Schumanns Arbeit ein, wie die Fotografin mit dem Ausgangsmaterial verfuhr - ein subjektives Interpretieren und Ordnen der Einzelbilder findet statt, das sich vom eigentlichen Gegenstand, den gefundenen Fotografien bzw. deren Projektion, entfernt. Damit rückt die eigentliche Absicht von Anne Schumanns Arbeit ins Zentrum - die Frage nach individuellem Erinnern und der Gerinnung zum kollektiven Gedächtnis. Jedwede rückblickende Erzählung bedeutet eine Einschränkung des Erzählten. Geschichte und Erinnerung ist kein statisches Festschreiben, sondern ein permanenter interpretatorischer Prozess mit nur punktueller Objektivität.
Anne Schumann, geboren 1978, studierte künstlerische Fotografie bei Professor Timm Rautert an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig und schloss 2008 ihr Studium mit Diplom bei Professor Christopher Muller ab. Von 2008 bis 2011 war sie Meisterschülerin bei Professor Peter Piller. Seit 2004 hat Schumann ihre Arbeiten in verschiedenen Ausstellungen unter anderem in Leipzig, Berlin, München, Wien, Cluj Napoca, Amsterdam und Heidelberg gezeigt. 2009 erhielt sie ein Landesstipendium des Freistaates Sachsen und eine Katalogförderung der Kulturstiftung Sachsen für das Künstlerbuch "Album". Anne Schumann lebt und arbeitet in Berlin.
Thilo Westermann, geboren 1980, studierte bis 2007/08 freie Kunst, Kunsterziehung, Philosophie und Kunstgeschichte in Erlangen, Nürnberg, München und Karlsruhe. Neben der Arbeit am eigenen künstlerischen Werk schreibt er derzeit an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg eine Dissertation über die Rezeption der Pan-Mythologie im 19. Jahrhundert, die von Prof. Dr. Hans Dickel betreut wird. Seit 2008 verfasst er selbständig Ausstellungskritiken und Katalogbeiträge. Thilo Westermann lebt in München und Nürnberg.
Nachwuchs fördern und ihm eine erste Chance für die Zukunft geben – Talents ist kreativer Campus für junge internationale Gegenwartsfotografie und Kunstkritik. Seit 2006 fördert der C/OÂ’s e.V. mit dieser Ausstellungsreihe angehende Fotografen und Kritiker, die sich an der Schwelle zwischen Ausbildung und Beruf befinden. Begleitet wird jede Einzelausstellung von einer Publikation, in der Bild und Text einen Dialog eingehen. Talents ist ein internationaler Wettbewerb, der jährlich ausgeschrieben wird. Aus den eingereichten Bewerbungen wählt eine Fachjury jeweils vier Fotografen für einen Jahrgang aus. Mit Hilfe starker Partnerschaften schickt C/O Berlin die Fotografen und Kunsthistoriker in die Welt. Dieses in Europa einzigartige Programm ist für viele junge Künstler der Ausgangspunkt für Ausstellungen, z.B. in den Goethe-Instituten Stockholm, New York oder Santiago de Chile.
Im Jahr 2011 steht die Talents-Reihe unter dem Thema Cinematic Thinking. Wie kann Fotografie filmische Strukturen adaptieren und diese gleichzeitig aufbrechen? Worin liegt die Stärke des eingefrorenen Momentes im Vergleich zum bewegten Bild? Die klassische Fotografie an der Wand als Präsentationsform kann um Projektionen oder Installationen erweitert werden und ermöglicht dadurch immer auch die Reflektion über das Medium Fotografie selbst.