„Mich interessierte eine Art von Fotografie, die vergleichbar ist mit visuellen Notizen. Ich wollte etwas festhalten können, ohne gleich ein komplexes Foto machen zu müssen." Stephen Shore
Das Wesen der Dinge – wie kann dieses fotografisch ausgelotet werden? Wie zeigt man das, was die Welt im Inneren zusammenhält und nicht nur dessen Abbild oder Schein? Immaterielles ist nicht unmittelbar dokumentierbar. Kulturelle Strömungen und Zusammenhänge manifestieren sich insbesondere in alltäglichen Situationen, banalen Gegenständen, unscheinbaren Landschaften oder gesichtslosen Orten. In seinen fotografischen Serien registriert, konserviert und reflektiert Stephen Shore diese Spuren menschlichen Lebens, die normalerweise übersehen und nicht als bildwürdig betrachtet werden. Als Chronist des Unspektakulären zeigt er die Strukturen und sensiblen Zusammenhänge unserer westlichen Kultur auf. So wird der Akt des Fotografierens zum Versuch, sich seiner Selbst und seiner Umwelt zu vergewissern und durch Beobachtung tiefere Erkenntnis zu erlangen. Gleichzeitig ist es das Bestreben, das Medium Fotografie zu verstehen und neu zu denken. Mit seinem konzeptuellen Ansatz und fortwährendem Experiment über einzelne Genres, Themen und Techniken hinaus ist Stephen Shore ein Pionier und einer der wichtigsten Vordenker in der Fotografie, der sich als Künstler immer wieder neu erfindet.
Aufgrund der Vielfältigkeit seiner Serien und Projekte lässt sich Stephen Shores Œuvre auf den ersten Blick leicht in die dokumentarisch-erzählerische Fotografietraditionen einordnen. Jedoch ist der „Moment décisif" für ihn irrelevant, Zufall spielt nur eine geringe Rolle. Vielmehr bedient sich Stephen Shore stilistisch dieser Kategorien und Bildsprachen nur, um seine konzeptuellen Ideen von Wirklichkeit bildlich umzusetzen. Ausschließlich seinen eigenen, immer wieder neu auferlegten Restriktionen unterworfen, befreit er sich von allgemeinen Konventionen des Medium Fotografie und lotet dessen Grenzen und Möglichkeiten permanent neu aus. So ist Stephen Shore bis heute ein stetiger Referenzpunkt und eine der wenigen Brückenfiguren, die sich allein durch visuelle Resultate und Arbeitsweisen nicht eindeutig und schnell festlegen lässt. Sein Bezugssystem offenbart vielmehr seine Stärke aus der Mischung von Dokumentarismus und künstlerischer Reflexion.
Die Ausstellung umfasst über 300 zum Teil nie veröffentlichte Bilder und wurde von Marta Dahó und Felix Hoffmann kuratiert. Sie wurde von der Fundación MAPFRE in Kooperation mit C/O Berlin zusammengestellt. C/O Berlin zeigt sie als einzige Station in Deutschland. Im Kehrer Verlag ist ein Katalog erschienen. Diese erste Retrospektive beleuchtet choronologisch die drei aussagekräftigsten Aspekte in Stephen Shores Œuvre aus vier Jahrzehnten sowie seinen einzigartigen Beitrag zur Fotografiegeschichte und die wichtigsten historiografischen Interpretationen.
Überlegungen zu fotografischen Sprachen
Stephen Shore frequentiert und dokumentiert zwischen 1965 bis 1967 die Factory von Andy Warhol. Hier eröffnet sich ihm eine befreite künstlerische Perspektive auf das Medium Fotografie hin zu einem Instrument der Wahrnehmung. In Tradition von Walker Evans und Robert Frank verortet er anschließend die US-amerikanischen Konsum- und Alltagswelten, jedoch nicht als visuelle Studie eines konkreten Status quo, sondern um das Wesen der jeweiligen Orte wie eine ambivalente Folie zu erfassen – daher auch seine klare Abwendung von bekannten Landmarks und Typologien. Formal experimentiert er mit Großbildkameras und Snapshot-Ästhetik sowie vorgefundenem Bildmaterial.
Farbigkeit als autonomes Gestaltungselement
Bis in die 1970er Jahre galt Farbfotografie als werblich und vulgär – zumindest in der künstlerischen Fotografie. Als einer der ersten verwendet Stephen Shore Farbe als fotokünstlerisches Bildelement in einer anderen Art und Weise wie zu der Zeit üblich. Sein Impuls kommt damals einer Revolution gleich. Und obwohl diese Bewertung mittlerweile anachronistisch erscheint, beherrscht sie die Rezeption der Arbeiten Stephen Shores bis heute.
Neue, digitale Möglichkeiten
Mit der tiefgreifenden Transformation der Fotografie durch die Digitalisierung sucht Stephen Shore nach neuen Distributions- und Präsentationsmöglichkeiten – ein permanentes Ausloten des Mediums und der unmittelbaren Reaktion des Betrachter beziehungsweise Followers. Wie bei seinen frühen konzeptuellen Arbeiten arbeitet er bei der Produktion von digitalen Büchern oder dem Einssatz von Instagram mit (selbst) auferlegten Grenzen innerhalb eines festen Raster dieser Plattform und mit der Idee der Imitation von fotografischen Essays.
Stephen Shore, geboren 1947 in New York City, beschäftigt sich seit seiner Kindheit mit Fotografie. 1961 erwirbt Edward Steichen, Kurator des Museums of Modern Art in New York, drei Fotografien von Stephen Shore. Mit 18 Jahren zieht er in die Factory von Andy Warhol ein, macht Fotos, assistiert bei Filmproduktionen und arbeitet als Beleuchter. 1971 stellt er als erster lebender Fotograf im New Yorker Metropolitan Museum of Art aus – seit Alfred Stieglitz 40 Jahre zuvor.1974 und 1979 erhält er Stipendien der National Endowment for the Arts (NEA). Seine Fotografien hat Stephen Shore in zahlreichen Büchern publiziert und Ausstellungen weltweit präsentiert – unter anderem in der Tate Modern, London, im Whitney Museum, New York, der Albertina, Wien, dem Jeu de Paume, Paris und dem Fotomusuem Winterthur. Seine Werke sind in Sammlungen wie dem San Francisco Museum of Modern Art, dem Museum of Modern Art, New York, der Pinakothek der Moderne, München, und der Deutschen Börse, Frankfurt, präsent. Seit 1982 ist er Direktor des Fotografie-Programms am Bard College, Annandale -on-Hudson in New York, wo er ist die Susan-Weber-Professor in der Kunst innehat. Stephen Shore lebt und arbeitet in New York City.