03.02.2011 - 03.04.2011
"Wie die Kamera eine Sublimierung des Gewehrs ist, so ist das Abfotografieren eines anderen ein sublimierter Mord - ein sanfter, einem traurigen und verängstigten Zeitalter angemessen." Susan Sontag
Anlegen, zielen, abdrücken, schießen, nachladen - wer ins Schwarze trifft, begeht fotografischen Suizid oder visuelles Harakiri. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg tauchte der sogenannte Fotoschuss als kuriose Attraktion auf Jahrmärkten auf. Die spielerische Herausforderung beinhaltet die verstörende Geste, angesichts der fotografischen Trophäe auf sich selbst angelegt zu haben. Welch' seltsame Faszination, sein eigenes Ego in eine Zielscheibe zu verwandeln, oder - um den Preis eines Bildes - der Versuchung zu erliegen, ein Duell mit sich selbst als Gegner auszutragen.
Nach Susan Sontag beinhaltet der Akt des Fotografierens etwas Räuberisches, das dem Menschen Gewalt antut. Man sieht ihn so, wie er sich niemals sehen kann. Fotograf und Betrachter erfahren vom Porträtierten etwas, dass ihm selbst verborgen bleibt - seine Verletzlichkeit, Wandelbarkeit und Sterblichkeit. Fotografieren als Memento Mori verwandelt Menschen in vergängliche Objekte. Beim Fotoschuss wird sogar der Schütze sein eigenes Objekt und löst seinen eigenen Tod aus.
Zum Selbstporträt mit Waffe wurden unzählige Schützen verführt, berühmte Künstler und Intellektuelle wie Jean Cocteau, Federico Fellini, François Truffaut, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Gilles Deleuze, Juliette Gréco, Man Ray, Henri Cartier-Bresson, Brassaï und Robert Frank kosteten den Taumel der fotografischen Selbstzerstörung aus. Die Ausstellung beleuchtet diese fast vergessene Bildform und spürt dem Motiv, bei dem der Betrachter zur Zielscheibe wird, in zeitgenössischen Arbeiten nach.
Ausgehend vom Fotoschuss hat Clément Chéroux, Kurator am Centre Pompidou, Paris, historische Aufnahmen aus unterschiedlichen Privatsammlungen zusammengestellt. Außergewöhnlich ist die Porträtserie von Ria van Dijk, die sich seit 1936 am Schießstand auf diese Weise porträtiert. In über 60 Amatuer-Fotografien lässt sich ihr Älterwerden verfolgen. Diese einmalige, ungeplante Langzeitserie ist ein wertvolles Zeitdokument, das kleinste Veränderungen über die Jahre sichtbar macht. Sylvia Ballhause und Emilie Pitoiset zeigen in ihren Fotografien die besondere - auch beunruhigende - räumliche und quasi-skulpturale Konstellation, die zwischen Schützen, Apparatur, Zielscheibe/Bild und Betrachter entsteht. Bei Jean-François Lecourt und Rudolf Steiner steht der Aspekt der Gewalt im Vordergrund. Eine Fotografie aufzunehmen oder sie zu sehen, bedeutet immer auch, in die Schusslinie von jemandem zu geraten. Konsequenterweise schießen die Künstler scharf auf die Fotoschuss-Automaten. Ihre derart gewonnenen Porträts zeigen echte Einschlagspuren. In dem Video von Christian Marclay steht der Betrachter Aug in Aug mit Clint Eastwood und inmitten anderer amerikanischen Filmgrößen, die ihn minutenlang beschießen. Ein Filmdokument zeigt Nikki de Saint Phalle und ihre Arbeit mit Gipsreliefs, die Farbbeutel enthalten. Durch Beschuss platzen sie und vollenden unter partieller Zerstörung das Objekt. In allen diesen Arbeiten erschafft ein Schuß das Werk - der vernichtenden Akt des Schießens wird zum schöpferischen Prozess.
Legen Sie selbst an! Im Zentrum der Ausstellung steht die Rekonstruktion eines echten Schießstandes. Hier kann Besucher die Erfahrung machen, welche Lust es bereitet, von sich ein Porträt zu erzielen.