„Und der Mensch heißt Mensch, weil er vergisst, weil er verdrängt. Und weil er schwärmt und stählt, weil er wärmt, wenn er erzählt." Herbert Grönemeyer
Geburtstage, Verwandtenbesuch, Taufe, Einschulung, Urlaubsreisen, Schulabschluss – Fotoalben kanonisieren besondere Familienereignisse zu kollektiven Erzählungen und visualisieren die indviduelle Lebensgeschichte. Sie sind zugleich Vergewisserung der eigenen Herkunft, wichtige Stütze für Erinnerungen und lassen längst vergangene Ereignisse wieder aufleben. Nur was geschieht, wenn ein essenzieller Protagonist in diesem Narrativ fehlt – der eigene Vater? Wie beeinflusst seine Abwesenheit die eigene Kindheitserinnerung? Kann man fehlende Bilder von ihm nachträglich kreieren? Und kann man durch bildliche Reinszenierung Erinnerungen aufleben lassen? Verónica Losantos besitzt keine Fotos aus der gemeinsamen Zeit mit ihrem Vater und nimmt diese Bilderlosigkeit zum Anlass, Erinnerungslücken selbst zu füllen. Mit ihrer künstlerischen Aneignung und Rekonstruktion sowie Assoziationen der Vergangenheit deckt Verónica Losantos die Flüchtigkeit und Unschärfe im Akt des Erinnerns auf.
In ihrer Serie „screen memories" inszeniert Verónica Losantos drei Typen von Bildern. Sie visualisiert Erinnerungen, die sie noch an die Zeit mit ihrem Vater hat. Dann stellt sie Fotografien nach, von denen sie weiß, dass ihr Vater sie damals selbst fotografiert hat beziehungsweise Bilder, die ihn selbst abbilden. Als letztes erfindet sie Erinnerungen und kreiert eine Vergangenheit, die es nicht gibt. Sie inszeniert und imaginiert Momente und Situationen mit ihrem Vater neu – eine bewusste Simulation beziehungsweise Manipulation von Gedächtnisinhalten. Was jedoch ist noch wahr, was fiktiv? Diese drei künstlerischen Herangehensweisen sind nicht gekennzeichnet und mischen sich in ihrer Arbeit so, dass es dem Betrachter selbst überlassen ist, die Form der Erinnerung einzuordnen.
Interessanterweise sind die Momente und Situationen, die Verónica Losantos simuliert nicht die klassischen Höhepunkte eines Familienalbums, sondern sogenannte Deckerinnerungen. Diese „screen memories" sind nach Sigmund Freud Ausfallschritte des Gedächtnisses: In aktiv rekapitulierten Kindheitserinnerung vergegenwärtigen sich Menschen nicht unbedingt „wichtige", sondern „unwichtige" Dinge.
Deckerinnerungen kommen durch zwei widerstreitende Kräfte zustande – eine versucht, an das bedeutsame Ereignis zu erinnern, eine andere, es schützend zu verdrängen. Beide Kräfte heben sich nicht auf, sondern produzieren einen „Erinnerungskompromiss": Nicht das bedeutsame Ereignis wird zum Erinnerungsbild, sondern ein assoziativ stark mit ihm verbundenes Element. Etwas, das vorher oder nachher passiert sein könnte, dessen Irrelevanz in scheinbar starkem Kontrast zu der affektgesteuerten Erinnerung steht. Die Erinnerung wird so ein Stück in die Assoziation verschoben.
Ihre Bilder fotografiert Verónica Losantos analog – sie vereint eine spezielle Farbigkeit, eine ähnliche Ästhetik. Die analogen Bearbeitungen sind viel gröber, da es keine Pixel, sondern Körner und Kratzer gibt. Zugleich ist die Schärfe nicht immer die gleiche. Die Analogfotografie beinhaltet das Unperfekte der Textur. Die realen Abzüge und die Fixierung in eine Materialität verweisen auf den Prozess der Entwicklung, dem Auftauchen von Fotografien. Die Art und Weise, wie wir uns erinnern, zeigt Verónica Losantos nicht nur in der Auswahl, in der Perspektivität, Farbigkeit oder im Bildarsenal, sondern auch im Format ihrer Fotos, die für sie unterschiedliche Präsenzen innerhalb des Gedächtnisses repräsentieren.
Verónica Losantos, geboren 1984, studierte Audiovisuelle Kommunikation und Medien an der Universität Burgos und am Lette Verein in Berlin. 2013 gewann sie den 2. Preis im Close Up! Fotografie-Wettbewerb von C/O Berlin. Ihre Arbeiten wurden im Freien Museum Berlin, in der Galerie World in a Room, auf dem Contact Photography Festival in Toronto und in der Galerie F5,6 in München gezeigt. Sie arbeitet derzeit als freiberufliche Fotografin und im Bereich Bildung bei der Gesellschaft für Humanistische Fotografie. Verónica Losantos lebt in Berlin.
Anja Schürmann, geboren 1978, promovierte zu Bildbeschreibungen der Kunstgeschichte als Stipendiatin des DFG-Graduierten-Kollegs „Bild-Körper-Medium" der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Seit 2009 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und arbeitet zudem als freie Autorin – u.a. für zahlreiche Ausstellungskataloge und für HANT – Magazin für Fotografie. Anja Schürmann lebt in Düsseldorf.
Nachwuchs fördern und ihm eine erste Chance für die Zukunft geben – Talents ist kreativer Campus für junge internationale Gegenwartsfotografie und Kunstkritik. Seit 2006 fördert C/O Berlin mit dieser Ausstellungsreihe angehende Fotografen und Kritiker, die sich an der Schwelle zwischen Ausbildung und Beruf befinden. Begleitet wird jede Einzelausstellung von einer Publikation, in der Bild und Text einen Dialog eingehen. Talents ist ein internationaler Wettbewerb, der jährlich ausgeschrieben wird. Aus den eingereichten Bewerbungen wählt eine Fachjury jeweils vier Fotografen für einen Jahrgang aus. Mit Hilfe starker Partnerschaften schickt C/O Berlin die Fotografen und Kunsthistoriker in die Welt. Dieses in Europa einzigartige Programm ist für viele junge Künstler der Ausgangspunkt für Ausstellungen, z.B. in den Goethe-Instituten Minsk, Paris, Mexico City oder Santiago de Chile.