„Keine Atempause, Geschichte wird gemacht. Vergessen macht sich breit. Es geht voran!" Fehlfarben
C/O Berlin setzt vom 22. August bis 1. November 2015 die Serie Talents unter dem Titel Lives of the Unholy mit Bildern von Krzysztof Pijarski und Texten von Annika Katharina Kuhlmann fort. Talents präsentiert junge Fotografen und Kunstkritiker an der Schwelle zwischen Ausbildung und Beruf.
Verbannte Helden, leere Sockel, verlassene Plätze, abgerissene Denkmäler – die Metropolen des ehemaligen Ostblocks sind voll von Spuren vergangener Utopien und politisch-gesellschaftlicher Transformation. Die einstigen Heiligen des Kommunismus wurden entweiht, die einstige strahlende Idee des Sozialismus schnell begraben. Im Alltag übrig geblieben sind urbane Leerstellen, architektonische Ruinen und städtebauliche Narben. Was wurde aus dem Stadtbild entfernt? Was in die Gegenwart mitgenommen – und aus welchen Gründen? Der polnische Fotograf Krzysztof Pijarski hat sich in seiner Heimatstadt Warschau auf Spurensuche begeben, um das Phänomen der Zerstörung von Monumenten in Polen nach dem Ende des Kalten Krieges zu untersuchen. Aus eigenen Fotografien heutiger Plätze und abfotografierten Archivaufnahmen fertigt er Montagen an, die unterschiedliche Zeitebenen visualisieren und das Gewesene in ihrer heutigen Absenz sichtbar machen. Mit seiner visuellen Archäologie schafft der Fotograf ein Archiv der Orte, an denen sich die Ästhetik des Verschwindens tief in das physische und symbolische Gewebe der Stadt eingeschrieben haben.
Aufbau, Aufbruch und Neuanfang wechseln sich in der Geschichte zyklisch ab mit Niedergang, Zerstörung und Zusammenbruch. Die ideologischen Gezeitenwechsel manifestieren sich im Abreißen der Monumente und Denkmäler der jeweils vorherigen Epoche und Gesellschaftsordnung sowie der Verwischung ihrer Spuren. Sie sind Symptome gesamtgesellschaftlicher Abwehrmechanismen gegen die unerträgliche Vorstellung der eigenen Historie. Sie sind Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren, die zur symbolischen Wiedergutmachung an der „geschändeten" Gesellschaft werden. Um ein gesellschaftliches Fortbestehen nach der Krise zu ermöglichen, wird die Verwerfung der eigenen Geschichte nahezu unmittelbar und möglichst vollständig vollzogen – so wird eine ganze Epoche vorerst zur Fußnote.
Krzysztof Pijarski lenkt seinen Fokus auf die Brüche, Wunden und Diskontinuität, auf einen klaren Blick für das Dazwischen und vervollständigt dadurch das Gesamtbild mit einer ungewöhnlichen, wichtigen Perspektive. Er erforscht eine Zone des Übergangs, da der etablierte Grund der Gesellschaft schon aufgelöst, der neue jedoch noch nicht etabliert ist. Eine Art Interregnum im Prozess der Gesellschaftsbildung, in dem die zentralen Orte buchstäblich leer stehen, um neu besetzt zu werden. Damit zeigt er, dass Historie lediglich eine Montage der Gegenwart ist und der Umgang mit Geschichte viel über die jetzigen Zustände aussagt. Das Verschwinden unliebsamer Erinnerungen und Trugbilder einer gewissen Zeit führt nicht nur zu einer Enthistorisierung, sondern auch zu einer Entrealsierung – zu temporärer Auslöschung der eigenen kollektiven Identität.
Krzysztof Pijarski arrangiert Bildtafeln zu visuellen, geschichtlichen Bühnen, auf denen unterschiedliche Zeiten und Räume zusammentreffen und sich irritierende Raum-Zeit-Schichtungen ergeben. In einer komplexen Vermittlungsstrategie, im Rückgriff auf Erinnerungen, Zeitmontagen und räumlichen Anordnungen, verleiht er dem über Jahre gesammelten Material Form. Die Bildkonstellationen ergänzt er mit Legenden, die historische Hintergrundinformationen liefern und Aufschluss geben darüber, wie die Bildtafeln zu lesen und unter welchen Gesichtspunkten die Bilder und vor allem ihre Montage zu betrachten sind. Zusätzlich zu zeitlichen Verschränkungen arbeitet Krzysztof Pijarski mit unterschiedlichen Techniken der räumlichen Überlagerung. Mehrere Perspektiven eines Ortes werden derart ineinander verschoben und übereinander gelegt, dass sie auf den ersten Blick zu einer Ansicht zusammenwachsen und die verschiedenen Bildschichten nahezu organisch miteinander zu verschmelzen scheinen.
Krzysztof Pijarski, geboren 1980, studierte Fotografie and der Akademie der Künste in Poznan und machte seinen Masterabschluss an der Staatliche Hochschule für Film, Fernsehen und Theater in Lodz, Polen. Desweiteren promovierte er zum Thema „Archeologie des Modernismus. Michael Fried und die Erfahrung der Moderne in der Kunst". Seine Arbeiten wurden in Salzburg, Warschau, Krakau, Poznan und Prag ausgestellt. Er ist außerdem Redakteur der Zeitschrift View. Theories and Practices of Visual Culture. Krzysztof Pijarski lebt in Warschau.
Annika Katharina Kuhlmann, geboren 1985, studierte an der Columbia University in New York International Relations und Photography und schloss mit einem medientheoretischen Fokus an der Universität der Künste, Berlin, am Institute for Time Based Media bei Professor Siegfried Zielinski ab. Derzeit ist sie an den Berliner Festspielen als Produktionsleitung für das Foreign Affairs Festival für zeitgenössischen Tanz, Theater und Performance verantwortlich und initiiert gemeinsam mit der Künstlerin Britta Thie die experimentelle kuratorische Plattform Special Service. Annika Katharina Kuhlmann lebt in Berlin.
Nachwuchs fördern und ihm eine erste Chance für die Zukunft geben – Talents ist kreativer Campus für junge internationale Gegenwartsfotografie und Kunstkritik. Seit 2006 fördert C/O Berlin mit dieser Ausstellungsreihe angehende Fotografen und Kritiker, die sich an der Schwelle zwischen Ausbildung und Beruf befinden. Begleitet wird jede Einzelausstellung von einer Publikation, in der Bild und Text einen Dialog eingehen. Talents ist ein internationaler Wettbewerb, der jährlich ausgeschrieben wird. Aus den eingereichten Bewerbungen wählt eine Fachjury jeweils vier Fotografen für einen Jahrgang aus. Mit Hilfe starker Partnerschaften schickt C/O Berlin die Fotografen und Kunsthistoriker in die Welt. Dieses in Europa einzigartige Programm ist für viele junge Künstler der Ausgangspunkt für Ausstellungen, z.B. in den Goethe-Instituten Stockholm, Paris, New York oder Santiago de Chile.