„Die Leica ist die Verlängerung meines Auges." Henri Cartier-Bresson
Dynamisierung, Demokratisierung, Revolution – technischen Innovationen werden oft große Veränderungen zugeschrieben. So auch der Erfindung der Leica vor 100 Jahren. Zu recht? Definitiv. Diese Kleinbildkamera hat den Blick auf die Welt verändert. Für immer. Wie jedoch kann ein kleiner, schwarzlackierter Apparat solch' superlative Wirkung entfalten? Das Taschenformat, das Hochleistungsobjektiv, die leise Mechnik und kurze Verschlusszeiten ermöglichten den Fotografen bis dahin völlig neue Einsatzmöglichkeiten, extreme Perspektiven und ungewöhnliche Spontaneität. Durch die Verwendung von Filmrollen wurde das Fotografieren seriell, preisgünstig und für jeden zugänglich. Diese Schnelligkeit, Freiheit und Leichtigkeit inspirieren Fotografen in ihrer Arbeitsweise und bedienen die Bedürfnisse einer beschleunigten Zeit. Die Miniaturisierung ist Auslöser für eine gewaltige Bilderflut, eine immense Lust am Experiment und eine umfassende visuelle Erkundung der Wirklichkeit durch Amateure, Künstler und Fotojournalisten. So wird die Leica-Kamera zum Gradmesser von Aufbruch, Tempo und Neuerung und ist längst Mythos – bis heute im digitalen Zeitalter.
Der fallende Soldat von Robert Capa, der Pfützenspringer von Cartier-Bresson, das küssende Paar am Time Square von Alfred Eisenstaedt, die vor Napalm flüchtenden Vietnamesen von Nick Út, das Hissen der sowjetischen Flage auf dem Berliner Reichstag von Jewgeni Chaldej – diese ikonografischen Fotografien sind alles Leica-Bilder und haben sich tief in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Erst durch die Kompaktheit und technische Neuerung der Leica sind diese Fotografien überhaupt entstanden. Ihre Vorgänger – klobige, schwere Kameras – waren statisch und konnten nur ein Foto pro Platte produzieren. Unmöglich, diese lässig und der jeweiligen Situation entsprechend einzusetzen. Vor Leica glich Fotografieren eher einem Inszenieren von Wirklichkeit; seit der Erfindung der Kleinbildkamera zeigen Fotografen die Welt, wie sie ist. Mit der Leica löst sich die Fotografie vom starren Studio und entdeckt das Geschehen auf der Straße. Und so wie sie die Conditio Humana dokumentiert, wird sie schnell selbst Bestandteil menschlichen Alltags.
Erstmals verdeutlicht die Ausstellung aus kunst- und kulturgeschichtlicher Perspektive, wie sich durch die Leica beziehungsweise das Kleinbild das fotografische Sehen im 20. Jahrhundert verändert hat. Mehr als 300 Fotografien sowie Zeitschriften und bedeutende Fotobücher belegen die unterschiedlichen Aspekte einer sich ab Mitte der 1920er Jahre abzeichnenden Leica-Fotografie. Die Ausstellung ist somit auch eine Stilgeschichte des Mediums von der Moderne bis zur postmodernen Vielfalt der Gegenwart, vom Neuen Sehen über die „Photographie humaniste" bis zu Modeaufnahmen, von der subjektiven Fotografie über die Autorenfotografie bis zur Street Photography und künstlerischen Fotografie.
In der Ausstellung präsentiert C/O Berlin Arbeiten von international renommierten Leica-Fotografen wie Alexander Rodtschenko, Henri Cartier-Bresson, Robert Capa, Oskar Barnack, Christer Strömholm, Robert Frank, Bruce Davidson, William Klein, F.C. Gundlach, Fred Herzog, Barbara Klemm, Robert Lebeck, William Eggleston, René Burri, Thomas Hoepker, Bruce Gilden und vielen weiteren.
Das erste Modell der Leica, deren Markenname sich aus dem Unternehmen Leitz und Camera zusammensetzt, wurde im März 1914 vom Feinmechaniker und Hobbyfotografen Oskar Barnack entwickelt. Ihm gelang es, Bildmotive auf einem 35-Millimeter-Kinofilm zu bannen. Er wandte einen simplen Trick an – in der Leica-Kamera bewegt sich der Film horizontal, während in den gebräuchlichen Kinokameras der Film senkrecht geführt wurde. Auf diese Weise vergrößerte Oscar Barnack das Negativformat auf 24 mal 36 Millimeter. Bedingt durch den ersten Weltkrieg konnte der Unternehmer Ernst Leitz II die serielle Produktion und Markteinführung der Kamera erst 1925 realisieren.