„Als ich in meiner frühen Jugend zum ersten Mal in Rom war", erzählt der Bildhauer Francesco da Sangallo, „erfuhr der Papst, dass einige wunderschöne Statuen in einem Weinberg nahe der Santa Maria Maggiore entdeckt worden waren. Er schickte einen seiner Beamten zu meinem Vater und ließ ausrichten, dieser solle sie sich ansehen. Da sich Michelangelo Buonarroti ständig bei uns aufhielt, bat ihn mein Vater mitzukommen. Zusammen gingen wir los. Kaum war ich zu den Statuen hinabgeklettert, als mein Vater auch schon sagte: ,Das ist doch der Laokoon, den Plinius erwähnt.' Dann gruben sie ein breiteres Loch, sodass sie die Statue herausheben konnten. Kaum war sie gut sichtbar, fingen alle an zu zeichnen und unterhielten sich dabei über Fragen der Antike." In dieser quasi-Echtzeitübertragung des Beginns der Laokoon-Rezeption am 14. Januar 1506 trifft die Skulptur auf eine Gegenwart, die es kaum erwarten kann, sich ihre Vergangenheit einzuverleiben und sie nach eigenen Vorstellungen zu vervollkommnen.
So fruchtbar ist das Aufeinandertreffen der Zeiten allerdings selten. Die Bruchstücke gotischer Skulpturen in irgendwelchen Museumsräumen beispielsweise sind eher aufgrund geschichtlicher Übel in ihre missliche Situation geraten, zwischen Bildersturm und Luftverschmutzung. Sie sind als Objekte am Ende ihrer Bestimmung angelangt, schließlich gibt es einen ausweglosen Begriff für sie: den Torso, den man gar nicht ergänzen kann, ohne ihn zu zerstören. Rodin hat bekanntlich abgetrennte Gliedmaßen und verstümmelte Rümpfe ausdrücklich als Torso erfunden und komponiert. Er verteidigte sich mit der Feststellung: „Jeder Teil des menschlichen Körpers ist ausdrucksvoll!" Der museale Torso will aber gar nichts ausdrücken, sondern ist eine reine, von der Zeit geläuterte Form, die keine Fragen mehr aufwirft. Er gehört zu keinem Körper.
Trotzdem sind die gotischen Skulpturen, die in Tim Eitels neueren Gemälden auftauchen ganz individuell in ihrer Wirkung. Damit fügen sie sich in die Reihe oft gesichtsloser und doch markanter Rückenfiguren in Eitels Werk reibungslos ein. Für den Künstler ist die erste Vergangenheit, mit der er zu schaffen hat, natürlich die eigene, und so zeigt sich damals wie heute eine charakteristische Aufteilung des Raums in klare Flächen mit Übergängen, die wie Raumzeitfalten durch das Bild schneiden. So zeigen sich Posen nicht als Ausdrucksmittel, sondern als Indiz einer tieferliegenden Haltung, beim skulpturalen Torso wie beim fragmentarisch wahrgenommenen Menschen, der nicht so einfach identifizierbar ist wie der Jeanneret-Stuhl, auf dem er sich platziert. Wie unsere Zeit ist auch die gotische Skulptur hier weniger vom Ideal des Menschen als vom Stilwollen geprägt, mit wechselnden Moden in Haltung, Faltenwurf und in der voluminösen Frisur über der hochkuppeligen Stirn. Eitels Bilder machen den Lauf der Zeiten möglichst nicht mit. Manchmal ist das einfach, denn es gibt ohnehin nichts Zeitloseres als einen alten Stein, festgeschraubt auf einem Metallsockel in einem abgelegenen Ausstellungsraum, in dem der Kampf des wetterabhängigen Fensterlichts gegen die Neonbeleuchtung das größte Spektakel abgibt. Aber auch in den Figurenbildern darf die Szene unverändert in sich ruhen bleiben. Es entsteht kein Handlungsbedarf. In der Doppelung von Motiven oder von ganzen Bildern macht Eitel die Wiederkehr des Augenblicks unter veränderten Bedingungen deutlich. Tatsächlich können wir dasselbe Bild am selben Ort über eine längere Zeit hinweg nicht auf die gleiche Weise wahrnehmen ...und auch der Betrachter hat fruchtbare Momente und solche, in denen er nichts zu sehen glaubt. („Dasjenige aber nur allein ist fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel lässt", sagt Lessing, als er über den Laokoon nachdenkt. „Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir hinzu denken können. Je mehr wir darzu denken, desto mehr müssen wir zu sehen glauben." Was irgendwie klingt wie eine Strategie zur Überladung des menschlichen Rezeptionsapparats.)
„Die meisten Künstler studieren das eigene Werk lange und gründlich, um festzustellen, ob sie ihren Intentionen einigermaßen nahe gekommen sind", schreiben Barbara Novak und Brian OʼDoherty ... und tatsächlich berichtet auch Eitel, dass er den größten Teil seiner Zeit im Atelier mit dem Anstarren der Leinwände verbringt ... aber hier geht es um Mark Rothko, der „dem mitbetrachtenden Besucher den Eindruck vermittelte, das Gemälde müsse immer unergründlich bleiben, da er die unendlich vielen Gesichter der Leinwand gar nicht vorhersehen konnte, die unterschiedliche Lichtverhältnisse mit sich brachten. In solchen Momente füllte Rothkos Konzentration in der Stille seines Atelier einen ganzen Teil des Raumes aus." Die Konzentration als temporäre Skulptur, während das Bild unter dem Auge zerfließt. With the past, this has nothing to do. Auch nicht wirklich mit der Zukunft. Wir leben im Jetzt.
Text von Lutz Eitel