Im 13. Jahrhundert verfasste der chinesische Minister Jia Sidao das legendäre «Buch der Grillen», das vermutlich das erste entomologische Buch überhaupt ist; noch heute beziehen sich chinesische Grillenkampfliebhaber auf dieses Werk. Die Grille ist allerdings auch in Europa ein Tier mit sehr alter Verbindung zum Menschen. Der griechische Dichter Aesop, der wahrscheinlich im 6. Jahrhundert vor Christus lebte, setzte ihr mit einer seiner Fabeln, Die Grille und die Ameise, ein einflussreiches Denk-mal. Jean de La Fontaine (1621–1695) übernahm das Motiv für eine eigene Fabel; die Geschichte ist im Kern dieselbe: Das scheinbar lebenslustige Dasein der Grille, die im Hier und Jetzt zirpt und hemmungslos promiskuitiv liebt, ohne langfristige Folgen zu bedenken, wird als kurzsichtige Faulheit angeprangert und dem vorausschauenden, fleißigen Leben der Ameise gegenübergestellt, die sich Vorräte anlegt und dafür auf das freudige Sommerleben verzichtet. Zu Beginn des Winters jedoch treten nicht nur die Vorteile der Ameise zutage, sondern auch ihre Hartherzigkeit, Schadenfreude und Arroganz. Sie verweigert der Grille jegliche Unterstützung – selber schuld, wer keine Vorräte anhäuft! – und verschanzt sich hinter festen Türen, dichten Grenzen.
Rémy Markowitsch stellt nun in seiner Installation «Glückliche Zeiten» mit dem Gedicht des türkischen Dichters Muzaffer Tayyip Uslu (1922–1946) die Frage: Liegt die Schuld etwa an der Grille, wenn sie den ganzen Sommer gesungen hat? Es erscheint kompliziert, aber vielleicht ist es auch ganz einfach, denn der Mensch wiederholt die immer gleiche Geschichte in Variationen: den einen geht es gut, weil die anderen darben – das hat System.
Aus: Glückliche Zeiten von Nadine Olonetzky