09.09.2011 - 19.11.2011
Entscheidend für das Verständnis der großformatigen Fotografien des amerikanischen Künstlers Jay Mark Johnson (*1955) ist das ihnen zugrundeliegende Paradox, dass die Arbeiten rein fotografisch zustande kommen und tatsächliche Ereignisse in der Welt abbilden, es sich also weder um digitale Manipulationen
noch um eine inszenierte Wirklichkeit handelt, sie aber dennoch eine völlig illusorische Bildwelt schaffen. Johnson verwendet eine modifizierte Kamera, welche über einen bestimmten Zeitraum immer wieder denselben schmalen vertikalen Streifen aufnimmt und diese sukzessiven Aufnahmen zu einem lückenlos von links nach rechts fließenden Bild zusammenfügt. Die vertikale Achse bleibt als räumliche Dimension erhalten, während die horizontale Achse der zeitlichen Dimension gewidmet ist: "x = time". Reglose Bildelemente erscheinen als gleichförmiger Hintergrund von horizontalen Linien, nur Elemente (Figuren, Fahrzeuge, etc.), die sich durch die Aufnahmeebene bewegen, gewinnen ein Eigenleben
und setzen sich als (je nach Geschwindigkeit) gestauchte bzw. gestreckte Gestalten ab.
Johnsons hybride Verbindung räumlicher und zeitlicher Dimensionen bezieht sich zwar auf kunsthistorische Vorläufer, vor allem auf die chronofotografischen Bewegungsstudien des späten 19. Jahrhunderts (Eadweard Muybridge, Étienne Jules Marey, Albert Londe u.a.) und auf den italienischen Futurismus, auf den
auch der Titel der Ausstellung mit den Begriffen "Anarchismus" und "Automobil" anspielt. Doch geht Johnson visuell und methodologisch über eine rein technische Spielerei hinaus, indem er die durch die Aufnahmetechnik bedingten Umkehrungen und Verschiebungen bewusst inhaltlich einsetzt, um unsere Wahrnehmungsmechanismen zu hinterfragen. Während seine früheren Arbeiten Tänzer als amorphe Gestalten zeigten, deren komplexe Bewegungen in einer Art von "action painting" erfasst wurden, spielen die neueren Fotos mit den Illusionen, die durch das visuelle Angleichen - bei gewolltem Bewahren komischer
Verzerrungen - seiner Bilder an räumliche Bilder entstehen. Denn selbst bei genauem Verständnis der Entstehungsweise werden wir die horizontale Zeitachse zwangsläufig räumlich wahrnehmen, denn im Bild ist sie räumlich.
Ein bemerkenswerter Effekt der Aufnahmetechnik, die das Bild aus sukzessiven Einzelaufnahmen zusammengesetzt, ist, dass sich die Gestalten im Bild immer in dieselbe Richtung bewegen. Diese ist aber lediglich durch die Schreibrichtung der Kamera bedingt, eine andere erschiene nur dann, wenn sich eine Figur
rückwärts durch die Aufnahmeebene bewegte. Die Kamera schafft somit eine Ordnung und Einheitlichkeit, die in der abgebildeten Wirklichkeit so nie gegeben war. Johnsons Untertitel für die Ausstellung ist deshalb nicht willkürlich. Die berühmte
literarische Figur des Don Quijote lebt in einer Scheinwelt, die von den verklärten Regeln einer untergegangenen Epoche geprägt ist. Die Komik und gleichzeitige Tragik der Gestalt liegt im Zusammenprall seiner Vorstellungen mit den Gegebenheiten seiner Zeit, und sein stures Festhalten an seinen Idealen
erscheint seinen Zeitgenossen wie eine Form von Wahnsinn. Auch der Anarchist, der sich mit der Realität des städtischen Autoverkehrs nicht abfinden will, kämpft gegen die sprichwörtlichen Windmühlen an. Gleichzeitig aber können wir auf die Visionen von Menschen nicht verzichten, welche die eingeschliffenen Denk- und Wahrnehmungsmuster durchbrechen und uns zu neuen Ufern führen, so absurd uns ihre Visionen anfänglich auch erscheinen mögen. Denn wenn wir sie missachten, dann könnte es uns so gehen wie den Bürgern von
Hameln: dass die Zeche, die wir letztendlich für unsere Blindheit zahlen müssen, weitaus höher ausfällt, als wir es uns leisten können.
J.M. Johnson hat am Institute for Architecture and Urban Studies studiert und als Assistent von Peter Eisenman sowie für Rem Koolhaas und Aldo Rossi gearbeitet. Arbeiten von ihm befinden sich im MOMA in New York, im Smithsonian Institution in Washington, D.C., im Art Institute of Chicago, sowie in der Sammlung Frederick R. Weisman und in der Langen Foundation, Hombroich. Seine künstlerischen Aktivitäten umfassen Theaterarbeit, musikalische Performances, bis hin zum Journalismus und zur Fotografie. Er ist Mitbegründer alternativer
Fernsehgesellschaften in Manhattan und im politisch turbulenten El Salvador der späten 80er Jahre. Nach seiner Rückkehr aus Lateinamerika begann er in der Filmindustrie zu arbeiten und ist mittlerweile Filmregisseur (Mitglied in der Directors' Guild of America) mit großer Erfahrung im Bereich der visuellen Effekte
u.a. durch seine Mitarbeit an Filmen wie Outbreak, Matrix, Titanic, Tank Girl, Moulin Rouge, Weißer Oleander und an Musikvideos u.a. für die Red Hot Chili Peppers.